Südwest Presse: Leitartikel: Landtagswahl

LEITARTIKEL · LANDTAGSWAHL

Zeitenwende in Südwest Stell– dir vor, es sind Wahlen und keiner
geht hin? Zwei Drittel der wahlberechtigten Baden-Württemberger
immerhin haben dem alten Sponti-Spruch eine Nase gedreht und die
schon so oft gestellte, betrübliche Diagnose von der
Politikverdrossenheit Lügen gestraft. Die Konsequenzen sind wahrlich
historisch zu nennen: Nach bald sechs Jahrzehnten Dauerregierens
findet sich die CDU auf der Oppositionsbank wieder. Damit nicht
genug: Mit Winfried Kretschmann haben erstmals in Deutschland die
Grünen das Amt eines Ministerpräsidenten erobert. Zeitenwende in
Südwest. Ähnlich wie 1998, als im Bund Rote und Grüne 16 Jahre
Kohl-Regierung beendeten, markiert das kommende grün-rote Bündnis im
Land mehr als nur einen Regierungswechsel. Mit einer bis vor kurzem
nicht für möglich gehaltenen Wählerzahl wurde nicht nur ein
politisches Erdbeben ausgelöst. Auch einem, bislang von viel Schwarz
und wenig Gelb überdeckten, anderen kulturellen Lebensgefühl mit
anderen Erwartungen an die Politik wurde an diesem Sonntag eine
breite Schneise geschlagen. Es geht um das, was Kretschmann und sein
künftiger Vize Nils Schmid mit Machtinstinkt wahrgenommen und
landauf, landab ihren Wählern versprochen haben: einen anderen Stil,
mehr Mitsprache, eine dialogorientierte Politik. Da Stefan Mappus
ist, wie er ist, provozierte er in geradezu idealer Weise diesen
verbreiteten Wunsch. Weil er zu oft rechthaberisch seinen Weg ging,
und wenn, nur nachträglich bereit war, einzubinden oder gar
einzulenken, konnte er im Wahlkampf bis zur Verzerrung karikiert und
auch diffamiert werden. Ein Ministerpräsident ohne Vertrauensbonus
aber bedeutet schon die halbe Wahlniederlage. Deshalb war es eben
nicht allein am Ende die atomare Katastrophe im fernen Japan, die die
hiesigen Christdemokraten – und mit ihnen die Freidemokraten – in
einer emotionalen Welle in den Abwärtsstrudel riss. Die sieben
tapferen Liberalen, die übrig geblieben sind, können nur mühsam
versuchen, sich wieder ein erkennbares Profil zu schnitzen. Wie die
CDU personell wieder auftaucht, wird Auskunft über ihre künftige
Spielstärke geben. Der Machtkampf um Fraktions-und/oder Parteivorsitz
ist bereits im Gange, mit weiteren Verletzten ist zu rechnen. Grüne
und Rote haben andere, nicht unbedingt einfachere Probleme zu
schultern. Bei aller Euphorie muss es dem Duo Kretschmann/Schmid
gelingen, die eigenen Reihen auf Maß und Mitte einzuschwören. Dabei
ist es sicherlich nützlich, dass die erneut auf einem historischen
Tief angelangte SPD zwar den Juniorpartner geben muss, aber gemessen
an Wählerstimmen fast gleichauf mit den Grünen liegt. Man kann
gemeinsam auf Augenhöhe regieren. Das wird nicht leicht sein, denn
die Erwartungshaltung dürfte eher mit dem Werbe-Motto „alles ist
möglich“ beschrieben sein, als mit der beschwichtigenden Zusage, man
werde nicht alles anders, aber vieles besser machen. Die Mühen der
Ebenen werden noch viel Anlass bieten, Enttäuschungen zu produzieren.
Wie ein Klotz hängt dabei Stuttgart 21 den Wahlsiegern an den Beinen.
Der Legendenbildung sei vorgebeugt, die Landtagswahl sei die –
negativ – ausgegangene Volksabstimmung in der Sache. Zwei Drittel der
Wähler haben den drei Pro-Parteien CDU, SPD und FDP ihre Stimme
gegeben. Die Fragezeichen, die nicht nur der Chef der Bundes-Grünen,
Cem Özdemir, gestern hinter den versprochenen Volksentscheid setzte,
mögen auch darin ihren Grund haben. Wer es wissen will, kann es
wissen: Rechtlich wie finanziell würde man sich mit dem bisher
anvisierten Ausstieg auf schwierigem Gelände bewegen. Mal sehen,
welchen Ausweg Grün-Rot sucht.

Pressekontakt:
Südwest Presse
Lothar Tolks
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