Südwest Presse: LEITARTIKEL · LEBENSMITTEL

Billig ist ungeil

Der Gastrokritiker Wolfram Siebeck hat einmal eine Tomate in
seinem Kühlschrank entdeckt, die tadellos aussah, wie kurz nach dem
Pflücken. Dabei war sie Wochen alt. Angeekelt warf er sie weg –
dieses Aussehen könne nur durch Chemie oder Gentechnik erreicht
worden sein, glaubt er. Dabei ist es genau diese Perfektion, nach der
sich fast alle Käufer sehnen. Essen hat schön auszusehen. Wenn es
dann noch preiswert ist, scheint alles okay zu sein. Bei
Lebensmitteln gibt es zwar eine wachsende Zahl von Konsumenten, die
auf Geschmack und Herkunft achten und sich vor einer Lasagne für 1,45
Euro, in der nun Pferdefleisch entdeckt wurde, regelrecht ekeln. Aber
für die Mehrheit ist so ein Dumpingpreis völlig normal und
erstrebenswert. Es geht ein Riss durch die Küche, die sich in anderen
Zimmern fortsetzt: Ein Sofa für 399 Euro, eine Jeans für fünf Euro
gelten oft als großartig und nur selten als zu kurz gedacht.
Preiswert ist in unserer Gesellschaft ein Wert an sich. Nur wenige
Luxusgüter sind davon ausgenommen. Geiz ist noch immer geil. Warum
ist aber übertriebene Sparsamkeit, wie Duden Geiz definiert, für
viele Menschen attraktiv? Psychologen glauben, dass Schnäppchen uns
belohnen. Wer ein heruntergesetztes Kleid ergattert, muss ein weniger
schlechtes Gewissen wegen der Geldausgabe haben und hat scheinbar gut
gehandelt. Kaufen an sich macht glücklich, ein um 30 Prozent
verbilligtes Auto verstärkt diesen Effekt noch. Billig-Preise
erlauben es, mit einem Budget mehr zu erstehen und diesen Glücks-Reiz
zu verstärken. Manche Konsumenten wissen tatsächlich nicht, dass ein
T-Shirt für drei Euro vermutlich viele Chemikalien enthält, bald alt
aussieht und die Näherinnen wohl unterbezahlt sind – oder es
interessiert sie nicht. Arme Menschen in unserer Gesellschaft müssen
jeden Euro umdrehen und können sich nur preiswertestes Essen leisten.
Andere sind so sozialisiert, dass sie prinzipiell nur sparsam
einkaufen. Und natürlich gibt es auch gesellschaftliche Gründe. Mit
dem Porsche zu Aldi fahren, samstags im Sternelokal essen und
sonntags beim Hamburgerbrater: Der Riss geht oft auch durch die
Persönlichkeit des Konsumenten selbst. Wer alleine in einer
wachsenden Single-Gesellschaft lebt, will sich nach der Arbeit
vielleicht nichts mehr kochen. Wenn man dann schon mehr oder weniger
ungesund isst, kann es auch Billig-Zeug sein. Die Zeit, die wir
TV-Koch-Shows ansehen, scheint uns fürs gute Einkaufen und Kochen zu
fehlen. Beim Verdrängen sind wir fast alle Meister. Oder warum lernen
wir nicht aus Lebensmittel-Skandalen wie Gammelfleisch, Dioxin-Eiern,
Hormon-Kalbfleisch? Natürlich sind auch Handel und Staat gefordert,
Lebensmittel sicherer und gesünder und ihre Herkunft überprüfbarer zu
machen. Aber wir alle müssen uns klarmachen, dass wir bei
Billig-Preisen nicht wirtschaftlich handeln. Alles hat seinen Preis.
Wir versuchen, ein Homo oeconomicus zu sein, sind es aber nicht: Für
unsere Ausgabe bekommen wir keine angemessenen Produkte. In der
schönen roten Gewächshaus-Tomate aus Holland schlummert kein
Geschmack. Wer Billig-Produkte kauft, bekommt Billiges und schadet
möglicherweise sich und andere. Es gilt, hinter die Fassade zu
schauen. Der Begriff „billig“ war früher negativer besetzt, das muss
er wieder werden. Wie wär–s mit einem „Geschmacks-Tüv“ online? Einen
„7. Sinn“ im Fernsehen nicht für Verkehr sondern Lebensmittel? Dem
Schulfach „Konsumieren“? Lebensmittel müssen nicht schön sein,
sondern gut schmecken, vielfältig und gesund sein und möglichst aus
der Region stammen. Tomaten, die nicht altern, Lasagne für 1,45 Euro,
gehören auf den Müll, denn sie sind Müll. THOMAS VEITINGER

Pressekontakt:
Südwest Presse
Lothar Tolks
Telefon: 0731/156218

Weitere Informationen unter:
http://