Big Data und Big Brother
Als sich die deutsche Netzgemeinde in der vorigen Woche wieder mal
in Berlin traf, um über die aktuellen Themen des digitalen Zeitalters
zu diskutieren, also über Nutzerfreiheit, Datenschutz und
Cyberkriminalität, da war die Ratlosigkeit unter den versammelten
Bloggern groß. Einer von ihnen gab die kollektive Gefühlslage der
Internetaktivisten mit den Worten zu Protokoll: „Wir haben keine
Ahnung, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen.“ Aus dem
Dilemma nämlich, dass die entgrenzte Kommunikation und globale
Datenspeicherung Risiken und Nebenwirkungen produzieren, die sich der
individuellen Beherrschung ebenso entziehen wie staatlichem Zugriff.
Dieses Grundproblem elektronischer Datenübertragung beschäftigt
derzeit nicht bloß bekennende Netzwerker. Zunehmend erreicht die
Frage, welche womöglich zerstörerischen Kräfte sich im World Wide Web
ausbreiten, die Politik und die Justiz. Wenn es im
NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages um die Vernehmung von
Edward Snowden geht, steht nicht nur die Massenausforschung durch
entfesselte Geheimdienste auf dem Prüfstand, sondern zugleich das
Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der Demokratie. Und wenn
der Europäische Gerichtshof mit seinen jüngsten Urteilen zur
Vorratsdatenspeicherung und zur Geschäftspraxis der US-Suchmaschine
Google ein erstes Machtwort gegen die scheinbar allgewaltigen
Informationsoligopole spricht, erhält die drängende Debatte über
Bürgerrechte und Verbraucherschutz in der modernen Mediengesellschaft
einen wegweisenden Anstoß. Nach den Enthüllungen des Whistleblowers
Snowden vor knapp einem Jahr entfuhr unserer Bundeskanzlerin der nur
auf den ersten Blick irritierende Satz, wir alle hätten es beim
Internet mit „Neuland“ zu tun. Mit fast schon entwaffnender
Ehrlichkeit hat Angela Merkel damals den Tatbestand beschrieben, dass
die zugegeben nicht mehr ganz neue Kommunikationstechnik seit ihrer
Einführung eine eigene Dynamik entfaltet hat, die Individuen wie
Institutionen, Unternehmen wie Staaten vor bislang unbekannte oder
fahrlässig übersehene Herausforderungen stellt. Durch die NSA-Affäre
zum Beispiel wurde offenbar, dass die Welt von Big Data mit dem
Schattenreich von Big Brother eine unheilvolle Allianz eingegangen
ist, und bei näherer Betrachtung von Google und Co. dämmert es
allmählich auch überzeugten Verteidigern der Marktwirtschaft, dass
der zügellosen Ausbeutung von Nutzerdaten schleunigst Einhalt geboten
werden muss. Dass das Internet kein rechtsfreier Raum sein darf, sagt
sich so leicht. Auch wenn es sich beim Netz um eine menschliche
Erfindung und kein über uns hereingebrochenes Naturphänomen handelt,
lässt sich hier offenkundig noch schwerer durchsetzen, was schon auf
anderen Feldern kompliziert genug ist – eine Balance von
Bürgerrechten und öffentlichem Sicherheitsinteresse, von Datenschutz
und Informationsfreiheit. Es wird höchste Zeit für eine mindestens
europäische Rechtsordnung, die den Machtanspruch der universellen
IT-Konzerne einhegt und sich nicht mit hilflosen Appellen an deren
freiwillige Selbstverpflichtung begnügt. Und für eine wirksame
parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste, die sich dank
erweiterter Überwachungsmöglichkeiten noch stärker
verselbstständigen. Am Anfang des Internets stand das Versprechen
neuer persönlicher Freiheiten und ökonomischer Chancen. Mittlerweile
ist klar, dass wir dabei auf einem schmalen Grat wandern – und offen,
ob wir die Gefahren für Selbstbestimmung und Demokratie bannen
können, die in dieser virtuellen Welt gleichermaßen präsent sind.
Pressekontakt:
Südwest Presse
Ulrike Sosalla
Telefon: 0731/156218
Weitere Informationen unter:
http://