Thüringische Landeszeitung: Der richtige Zeitpunkt – Joachim Gaucks angekündigter Rückzug / Leitartikel von Sibylle Göbel zur Ankündigung Joachim Gaucks, nicht fpr eine zweite Amtszeit als Bundespräsident zu kandidieren

Wie viele verpassen den richtigen Zeitpunkt um
aufzuhören: Das ist in der Politik nicht anders als in der Wirtschaft
oder im Sport. Aus Angst, nach dem Rückzug allzu rasch in der
Bedeutungslosigkeit zu versinken, nicht mehr eingreifen, die
Geschicke nicht mehr lenken zu können, aus Angst vielleicht auch,
keine Aufgabe mehr zu finden, die beflügelt und ausfüllt – all das
sind Gründe dafür, sich an sein Amt oder eine Rolle zu klammern und
nicht loslassen zu können.

Joachim Gauck indes scheint diese Ängste nicht zu haben. Dafür
aber Realitätssinn und große Lust auf ein selbstbestimmtes Leben.
Der Mann, der dem beschädigten Amt des Bundespräsidenten wieder
Ansehen verlieh, manchmal auch mit seinem pastoralen Duktus nervte,
hält sich nicht für unersetzlich. Und eben auch nicht für
unsterblich. Wer in seinem achten Lebensjahrzehnt steht und es bei
guter gesundheitlicher wie geistiger Verfassung erreicht hat, hat
allen Grund, dankbar und demütig sein – und jedes Recht dazu, sein
Schicksal nicht herauszufordern. Denn auch wenn das Amt Gauck mehr
Lust als Last war – spätestens dann, wenn das Alter seinen Tribut
fordert, wird auch die kleinste Bürde schwer.

So gesehen geht von seiner fröhlich vorgetragenen
Rückzugsankündigung auch eine Botschaft aus: Ehrlich gegenüber sich
selbst und anderen zu sein, seine Kräfte richtig einzuschätzen und
sich, wenn man es denn selbst in der Hand hat, dann zur Ruhe zu
setzen oder anderen Aufgaben zuzuwenden, wenn es – sofern man Mensch
blieb – noch allseits bedauert wird. Alles andere schadet nicht nur
dem Amtsinhaber, sondern auch dem Amt.

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