WAZ: Die Kehrtwende der SPD – Kraft blieb nur die Wahl zwischen zwei Risiken – Leitartikel von Ulrich Reitz

Verzockt haben sich beide Spitzenleute. Hannelore
Kraft, weil sie glaubte, die Regierung Rüttgers aushungern zu können.
Jürgen Rüttgers, weil er glaubte, Kraft werde am Ende doch eine Große
Koalition vereinbaren, selbst unter seiner Führung. Nun wagt Kraft,
getrieben von den Grünen, nach ihrer eigenwilligen Interpretation
gelockt von den Liberalen, ein für dieses große Bundesland einmaliges
Experiment: eine Minderheitsregierung, die so heißt, weil sie eben
keine richtige Regierung ist. Weshalb tut sie das, und warum gerade
jetzt? Die Grünen haben ihr zuletzt mehr oder weniger deutlich
Führungsschwäche, mindestens Unentschlossenheit vorgeworfen, genau
wie viele Kommentatoren. Sie ahnte, dass Passivität genauso
gefährlich für sie sein könnte wie Aktivität. Sozusagen von Wespen
bedroht, hat sie sich für den Griff ins Wespennest entschieden. Das
ist das eine. Das andere ist die Hoffnung auf eine Wende der FDP.
Parteichef Pinkwart hat gestern in einem WAZ-Gespräch der CDU die
Loyalität aufgekündigt. Ein Wink mit dem rot-gelb-grünen Zaunpfahl,
so las dies Kraft absichtsvoll. Am meisten fürchtet sie den Vorwurf,
sich am Ende doch mit der Linkspartei einzulassen. Dieser seltsamen
Truppe, deren Präsidenten-Kandidatin ausgerechnet den Tag des
DDR-Volksaufstandes zu der Geschmacklosigkeit nutzt, den
Unrechtscharakter dieses Sowjet-Babies anzuzweifeln. Man sollte das
alles nur nicht für einen genialen Plan halten. Kraft ist keine
Strategin, sie fährt auf Sicht. Am Ende ist theoretisch vieles
möglich: Ampel, Große Koalition unter ihrer Führung, Rot-Rot-Grün,
Schwarz-Grün-Gelb, Neuwahlen. Was von Theorie zu Praxis wird,
entwickelt sich erst in den nächsten Monaten. Krafts Risiko bleibt
einstweilen. Sie hat es selbst beschrieben, noch am Dienstagabend.
Wer keine Mehrheit zusammenbringe für einen Etat, gelte als
Verlierer, sagte sie der SPD-Landesgruppe in Berlin. Und Zeitdruck
entstehe auch nicht durch den Bundesrat, Weichenstellungen in der
Atompolitik stünden erst im Spätherbst an. So haftet Krafts
Entschluss etwas Irrationales an, aber seit wann geht es in der
Politik nur rational zu? Die Regierung Rüttgers ist jedenfalls
Geschichte, Rüttgers selbst wohl auch, heißt es jetzt von vielen
Seiten in der CDU. Ein Gedankenspiel: Was wäre wohl geschehen, wenn
Rüttgers Frau Kraft früh signalisiert hätte, an ihm werde eine Große
Koalition nicht scheitern? Hat am Ende also die CDU diese Niederlage,
in die Opposition zu müssen, selbst zu verantworten? Und wer gewinnt
nun den Machtkampf in der CDU?

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