WAZ: Die Reform von Hartz IV – Neue Rechnung, altes Ergebnis – Leitartikel von Stefan Schulte

Die Kritik an Hartz IV ist so alt wie die Reform.
Doch was die Verfassungsrichter zum Umgang des Staates mit seinen
Bedürftigen anzumerken hatten, war vernichtend. Von Willkür sprachen
sie, davon, dass der Gesetzgeber nicht einmal versucht habe
herauszufinden, was man in Deutschland für ein menschenwürdiges Leben
braucht. Nun hat die Regierung neu gerechnet – und kommt zu fast dem
gleichen Ergebnis. Dass sie dafür kübelweise Spott erntet und ihr
abgesprochen wird, das Verfassungsgericht ernst genommen zu haben,
war klar. Doch sie hat nicht jeden Kübel verdient. Natürlich hat auch
Schwarz-Gelb – so wie einst Rot-Grün – eine politische Rechnung
aufgemacht. Dass die Regelsätze kaum anders ausfallen als zuvor, ist
der Haushaltslage geschuldet. Man hat so lange neu gerechnet, bis
wieder die alte Summe herauskam. Ob die Hartz-IV-Empfänger nun kein
Geld mehr für Tabak und Alkohol bekommen, aber für den
Internetanschluss und die Praxisgebühr, dürfte ihnen egal sein.
Insofern ist und bleibt der so genannte Warenkorb ein Alibi für eine
politisch gesetzte Summe. Inhaltlich eine Farce, politisch der
reinste Realismus. Doch wer auf das Hauptanliegen der
Verfassungshüter schaut, findet einiges davon in der Reform wieder.
Es ging den Richtern in erster Linie um die Kinder aus
Hartz-Familien. Der Staat sollte sie nicht mehr wie
60-Prozent-Erwachsene behandeln, sondern ihnen geben, was sie
wirklich brauchen. Darunter verstanden die Richter bessere Chancen in
der Bildung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Diese Forderung
hat Arbeitsministerin Ursula von der Leyen zum Teil erfüllt – gegen
reichlich Widerstand aus den eigenen, konservativen Reihen. Die neuen
Regelsätze für Kinder sind ge-nauso politisch gesetzt wie die der
Erwachsenen. Kritik: siehe oben. Doch es ist konsequent, den Auftrag
der Richter eben nicht per Überweisung an die Eltern zu erledigen.
Sondern in Form neuer Leistungen, die nur den Kindern zugute kommen.
Das mag mancher als Entmündigung der Eltern werten und hat damit
nicht Unrecht. Doch wenn der Staat Kindern aus armen Familien die
Nachhilfe, den Sportverein oder den Schulausflug finanzieren will,
hat er das Recht sicherzustellen, dass jeder Cent bei den Kindern
ankommt. Selbst wenn nur eine Minderheit von Kindern gleichgültiger
Eltern davon profitiert, hat es sich gelohnt. Von der Leyen macht
damit wie schon beim Elterngeld sozialdemokratische Politik. Das
sollte die SPD bei ihrer Generalabrechnung mit der Reform ebenso
wenig vergessen wie die Kleinigkeit, dass sie Hartz IV erfunden hat.

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