Wer zwischen Fördertürmen und Kokereien aufwuchs, 
wer die unverbrüchliche Einheit von SPD und Montan-Beschäftigten 
erlebt und die tausendfachen Treueschwüre für Kumpel und Kohle gehört
hat, der meint seit der rot-grünen Koalitionsbildung in NRW die 
Sozialdemokratie nicht mehr zu verstehen. Vom alten Bekenntnis zum 
Bergbau ist nur noch ein laues, so oder so interpretierbares Ja zur 
Kohle geblieben. Verrät die Partei Tradition und Identität?
   Tatsächlich wirkt es wie die Aufkündigung eines Ur-Prinzips der 
Sozialdemokratie, eben der Solidarität mit der 
Industriearbeiterschaft – doch im Grunde folgt sie nur einem Wandel: 
Der Bergbau, der hier einst einer halben Million Menschen Arbeit und 
Brot gab, ist ein Zweig, der vor allem vom Mythos noch zehrt. Und 
diese Entwicklung kam nicht über Nacht. Die für viele bittere 
Wahrheit ist in einer Umfrage von 2002 dokumentiert. Bereits damals 
hielt im Ruhrgebiet eine Mehrheit die Zeit des Bergbaus für 
„ablaufend oder abgelaufen“ und nicht wenige, die ihn ganz 
„abschaffen“ wollten. Mit anderen Worten: Es vollzog sich die 
Auflösung eines Milieus der „alten“ Sozialdemokratie.
   Somit erscheint die Distanz der Partei heute zur Kohle beinahe 
plausibel. Sie geht nicht auf eine plötzliche Laune oder der Willkür 
einer modernisierungswütigen Parteispitze zurück, sondern folgt einem
gesellschaftlichen sowie ökonomischen Wandel, der lange schon läuft. 
Und – er widerspricht dem Anschein zum Trotz nicht unbedingt 
sozialdemokratischen Idealen.
   Von Anfang an strebte die Sozialdemokratie die Verbesserung, die 
Humanisierung von gesellschaftlichen Daseinsbedingungen an und 
verstand sich dabei als Bewegung des Fortschritts. Schutz und 
Beistand brauchte einst vor allem die 
(Industrie-) Arbeiterschaft, aber die große Ära der 
Schwerindustrie ist überholt. Die Vertreter einer „neuen SPD“ meinen,
den hohen moralischen Anspruch und das Fortschrittsideal der 
Sozialdemokratie nunmehr damit zu erfüllen, indem sie sich für 
Umwelt- und Ressourcen-schonenden Daseinsverbesserungen einsetzen, 
wovon vor allem die Kinder- und Enkelgenerationen profitieren – das 
macht es leichter, auf Distanz zur Kohle zu gehen.
   Trotz alledem: Auch wenn der Bergbau an wirtschaftlicher Bedeutung
und Zahl der Beschäftigten dem Ende entgegengeht – im Revier wird er 
noch immer als identitätsstiftend und „Sache des Herzens“ empfunden. 
Das darf auch die SPD nicht übersehen, die schon mit Hartz IV an 
Urvertrauen eingebüßt  hat. Jetzt sollten die Sozialdemokraten das 
Neue tun, ohne das „Alte“ zu lassen.
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