WAZ: Ein Fall von Erpressung. Leitartikel von Ulrich Reitz

Es ist eine gute Tradition in Deutschland, das
oberste Staatsamt und dessen Amtsinhaber mit Respekt zu behandeln. Im
Fall Christian Wulffs muss man allerdings einen Unterschied machen
zwischen Amt und Amtsinhaber. Inzwischen muss man sogar fragen, ob
nicht der Amtsinhaber das ihm anvertraute Amt beschädigt. Dann wäre
das Amt vor dessen Inhaber zu schützen.

Wulff hat versucht, den Chefredakteur der Bild-Zeitung, Kai
Diekmann, und auch den Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner unter
Druck zu setzen. Der Präsident wollte verhindern, dass Bild Wulffs
fragwürdiges Kreditgebaren enthüllt. Das allein ist skandalös.
Unmittelbar vor seinem Anruf hat der Bundespräsident vor Journalisten
in Kuwait über die Bedeutung der Pressefreiheit für die Demokratie
referiert. Dann rief er in Berlin an, um die grundgesetzlich
gesicherte Pressefreiheit für sich persönlich außer Kraft zu setzen.

Skandalös ist darüber hinaus, dass das Staatsoberhaupt sich in die
peinliche Lage manövrierte, beim Chefredakteur um Entschuldigung
bitten zu müssen. Ein Präsident, abhängig von der Gnade eines
Journalisten – das passt selbst bei großer Fantasie nicht zum
Staatsamt.

Es spricht im Übrigen Bände, dass zwischen dem Anruf beim
Bild-Chef und der Entschuldigung volle zwei Tage liegen. Es sieht
ganz so aus, als ob sich der Präsident nicht aus Einsicht
entschuldigt hat, sondern unter Druck. Er musste befürchten, das
Protokoll seines Anrufs könnte veröffentlicht werden. Es handelt sich
übrigens um einen Wutausbruch, der mehrere Minuten dauerte.

Was für eine Eselei außerdem, dem Bild-Chef auf dessen Mailbox zu
sprechen. Ein Telefonat zwischen einem Journalisten und einem
Politiker ist geschützt, man kann Vertraulichkeit vereinbaren. Das
ist bei einer auf eine Mailbox gesprochenen Nachricht nicht der Fall.
Bild hätte sie veröffentlichen dürfen, verzichtete aber klugerweise
darauf. Springer-Chef Mathias Döpfner machte dem Präsidenten klar,
dass er sich in die journalistische Freiheit nicht einmischen werde.
Dass ein solcher Vorgang – der Präsident droht mit „Krieg“ zwischen
ihm und Deutschlands größtem Zeitungsverlag – nicht geheim bleiben
würde, war klar. Bei Bild in Berlin arbeiten 180 Redakteure, und
nicht jeder im Präsidialamt schätzt Wulff.

Die Union hat schon vor einigen Tagen ein Ende der Debatte um
Wulff gefordert. Das war mindestens einmal verfrüht, wie sich jetzt
herausstellt. Abgesehen davon, dass noch nicht klar ist, ob Wulff
gegen das niedersächsische Ministergesetz verstoßen hat, als er von
einem Privatmann einen Kredit annahm. Eine hypothetische Überlegung:
Wäre die Kanzlerin jemals auf die Idee verfallen, Wulff für das
Präsidentenamt vorzuschlagen, wenn sie gewusst hätte, was sie heute
weiß?

Es ist die Aufgabe der Presse, in einem Rechtsstaat aufzudecken,
was schiefläuft. Auch wenn etwas beim Bundespräsidenten aus dem Ruder
läuft. Was macht die Union jetzt? Verteidigt sie „ihren“ Präsidenten?
Falls ja – mit welchen Argumenten? Die Kanzlerin wird jedenfalls
alles vermeiden, was sie selbst und ihre Koalition in Gefahr bringt.
So sind nun einmal die politischen Spielregeln.

Fazit: Es wurde gewarnt, der Rücktritt des zweiten
Bundespräsidenten in Folge käme einer Staatskrise gleich. Das ist
falsch. Unsere Demokratie hat sich bislang gerade dann bewährt, wenn
sie ihre Institutionen schützen musste. Darauf kann man bauen.

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