WAZ: Geschick oder Dreistigkeit? – Leitartikel von Knut Pries

Was hat man von Boris Tadic zu halten, dem
serbischen Präsidenten mit dem perfekten Timing? Als es eng wurde mit
der Erhebung zum EU-Kandidaten, als sich die EU-Außenchefin Ashton
die Führung in Belgrad persönlich vornehmen wollte – präzise da wurde
der verblüfften Welt der seit Ewigkeiten gesuchte Großverbrecher
Mladic präsentiert. Und gleich darauf die unverblümte Forderung:
Jetzt aber flott mit unserer Bewerbung um die EU-Mitgliedschaft! Ob
man das Dreistigkeit oder Geschick nennt, ist Geschmackssache. In
jedem Fall zutreffend ist zweierlei: Serbien hat einen großen Schritt
Richtung Europa getan. Und: Der Weg ist noch sehr lang. Der Politiker
Tadic wird noch viel mehr Geschick entwickeln müssen, um sein Land in
die Gemeinschaft der demokratischen Rechtsstaaten dieses Kontinents
zu bugsieren. Dass mit Goran Hadzic ein letzter gesuchter
Gräuel-Verdächtiger noch immer frei herumläuft, ist das geringste
Hindernis. Es dürfte sich über kurz oder lang erledigen. Gravierender
sind die Rückstände bei der Herstellung demokratischer Verhältnisse,
einer unabhängigen Justiz, einer kompetenten Verwaltung und einer –
für in- und ausländische Teilnehmer – fairen Wirtschaftsordnung. Ohne
eine Reform an Haupt und Gliedern wird Serbien Korruption und mafiose
Strukturen, die Kernübel des Balkans, nicht abschütteln können.
Schließlich wird Belgrad sich auch in Sachen Kosovo bewegen müssen.
Vielleicht nicht bis zur Anerkennung, wohl aber bis zur Duldung der
vormaligen Provinz als EU-Mitglied. Man muss kein Prophet sein, um
festzustellen: Bis das bewerkstelligt ist, wird Präsident Boris Tadic
bei allem Geschick Geschichte sein – hoffentlich ein erfreuliches
Kapitel.

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