WAZ: Im Herbst des Protestes. Leitartikel von Dirk Hautkapp

So widerborstig wie an diesem Wochenende war das
Volk lange nicht. Zigtausende werden heute in Stuttgart, im Wendland
und in Hannover auf die Straße gehen. Gegen Stuttgart 21. Gegen
Castor-Transporte und die verlängerte Lebensarbeitszeit von
Atom-Meilern. Gegen das fortschreitende Auseinanderfallen des
gesellschaftlichen Oben und Unten. Der Souverän stellt dem „Herbst
der Entscheidungen“ der Kanzlerin den heißen Herbst des Protestes
entgegen. Folgt ein Winter der Verbitterung?

Mögen die inhaltlichen und mentalen Schnittmengen zwischen
Bahnhofs-Neubaugegnern, Anti-Atom-Bewegten und um den sozialen Kitt
der Gesellschaft besorgten Gewerkschaftern auch überschaubar sein, so
birgt das Protest-Potenzial für die politische Klasse doch echte
Gefahren. Nur ein Wasserwerfer mehr im Schwäbischen, nur ein
unverhältnismäßig erscheinender Polizeieinsatz gegen den zivilen
Ungehorsam in Gorleben, nur eine weitere vergiftende spät-römische
Dekadenz-Attacke auf die Gegner des Sozialabbaus – der Zündfunke für
ein themenübergreifendes Anti-Regierungsbündnis könnte Feuer fangen.

Mit einem Generalstreik-Klima à la Frankreich wäre aber niemandem
gedient. Die Blockade zwischen Bürgern, die sich von der Politik
unverstanden fühlen und Politikern, die Klage führen gegen die
schwindende Veränderungsbereitschaft ihrer Wähler, würde sich nur
weiter verfestigen. Aus 18 Millionen Wahlberechtigten, die bei der
letzten Bundestagswahl Enthaltsamkeit übten, könnten leicht 25 oder
30 Millionen werden. Das Fundament politischer Beschlüsse würde bis
zur Unkenntlichkeit zerbröseln.

Diesen Prozess des Verfalls von Vertrauen aufzuhalten, mindestens
aber zu verlangsamen, muss gerade im Lichte der Erfahrungen von
Stuttgart 21 vornehmste Aufgabe der Politik sein. Der alte Pfad
„Legitimation durch Verfahren“ ist ausgetrampelt. Er führt nicht mehr
automatisch zum Ziel breiter Akzeptanz. Politische Vorhaben von
Tragweite müssen nicht nur demokratisch und rechtlich unverdächtig
zustande kommen. Sie sind auch fortlaufend für den Laien verständlich
zu erläutern, zu begründen, zu verteidigen – und notfalls zu
korrigieren.

Diese auf gleiche Augenhöhe zielende Kommunikation zwischen Volk
und Volksvertretern ist aufwendig. Aber lohnender, als Sachzwänge
vorzuschieben und jene als Fortschrittsfeinde zu verunglimpfen, die
in einer Welt, die sich der Grenzen des Wachstums immer bewusster
wird, etwas Vernünftiges tun: zweifeln, ob alles technisch Machbare
wirklich nachhaltigen Nutzen erzeugt.

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