Weser-Kurier: Kommentar zum Fall Timoschenko

Rein theoretisch könnte es sein, dass die seit mehr
als einem Jahr inhaftierte frühere ukrainische Ministerpräsidentin
Julia Timoschenko den heutigen Mittwoch als freie Frau beenden wird:
Das Oberste Gericht der Ukraine entscheidet über ihre Berufung gegen
ihre Verurteilung zu sieben Jahren Gefängnis. Doch es bedarf keiner
hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen: Die politische, auf
den autokratisch regierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch
eingeschworene Justiz wird dessen Widersacherin dort lassen, wo sie
ist – in einer Gefängniszelle in Charkow. Deshalb richten sich die
Hoffnungen von Julia Timoschenko und der ukrainischen Opposition auf
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Es
wirkte wie ein Flehen, als Anwalt Sergej Wlassenko sich an die
Richter wandte: „Ihre einzige Hoffnung sind Sie.“ Tatsächlich hat der
Gerichtshof schon vor einiger Zeit klar gemacht, dass aus seiner
Sicht in der Ukraine Justizwillkür herrscht. Und obwohl das Urteil im
Fall Timoschenko erst in einigen Wochen fallen wird, scheint schon
jetzt festzustehen: Der Straßburger Richterspruch wird Machthaber
Janukowitsch nicht gefallen. Bleibt allein die Frage, ob die frühere
Ministerpräsidentin wirklich hoffen darf, dass sich für sie etwas zum
Guten wenden könnte. Ja, sie darf. Aber sie sollte nicht zu sehr
hoffen. Denn schon bisher hat sich der Präsident kaum darum geschert,
was die internationale Öffentlichkeit sagt. Dass Bundespräsident
Joachim Gauck und andere westliche Staatsoberhäupter ein
Gipfeltreffen in Jalta aus Protest abgesagt haben, hat ihn ebenso
wenig von seinem Kurs abgebracht wie die Einschätzung des Straßburger
Gerichtshofs, dass die Verhaftung von Timoschenkos früherem
Innenminister „willkürlich und ungesetzlich“ gewesen sei. Dem Westen
bleibt nur die Selbsterkenntnis: Im Grunde genommen ist er machtlos –
schließlich will er es sich um der Wirtschaft willen mit der Ukraine
nicht komplett verderben. Genauso wenig wie mit China oder Russland.
Deshalb wird der Straßburger Richterspruch zwar deutlich ausfallen,
für Janukowitsch aber keine Folgen haben.

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