Westdeutsche Zeitung: Arbeitnehmerfreizügigkeit = von Martin Vogler

Nachdem schon jetzt jeder zweite Handwerker und
Altenpfleger polnisch zu sprechen scheint, fällt am 1. Mai eine
weitere Hürde für Arbeitnehmer aus Polen und sieben weiteren
östlichen Staaten. Das führt nicht nur bei arbeitslosen Deutschen zu
Befürchtungen, billige Arbeitskräfte würden ins Land strömen, das
Lohnniveau ins Bodenlose drücken und Jobs wegnehmen. Zudem weiß
niemand, ob es bei den prognostizierten Zahlen bleibt. Vor allem
gering qualifizierte Arbeitnehmer müssen in der Tat die Konkurrenz
fürchten. Andererseits haben bereits heute 200 000 Osteuropäer eine
Arbeitserlaubnis in Deutschland. Hinzu kommen knapp 300 000
Saisonkräfte, etwa für das ungeliebte Spargelstechen. Und angeblich
gibt es eine ebenfalls sechsstellige Zahl von schwarz Beschäftigten,
die jetzt in die Legalität wechseln können. All diese haben den
Arbeitsmarkt auch nicht ins Kippen gebracht. Das bedeutet: Das
Unbehagen ist logisch, aber hoffentlich unbegründet. Vor allem
erweist es sich nachträglich als kluger Schachzug, dass vor sieben
Jahren Deutschland neben Österreich als einziges Land in der EU die
volle Arbeitnehmerfreizügigkeit verschob. Denn jetzt können wir dem
vermuteten Ansturm relativ entspannt entgegensehen. Es gibt zwar auch
heute keine Vollbeschäftigung, aber einen sich positiv entwickelnden
Arbeitsmarkt. Das war 2004 anderes, damals herrschte Angst vor
Massenarbeitslosigkeit. Außerdem haben sich dank Mindestlohn die
Rahmenbedingungen verbessert. Wenn jetzt mehr Polen, Slowaken, Letten
und andere Osteuropäer hereindrängen, kommt es darauf an, wer das
ist. Im Niedriglohnbereich gibt es Tätigkeiten, für die sich im
Inland sowieso niemand findet. Da sollten wir den Fremden sagen:
Danke, dass Ihr unsere Drecksarbeit macht! Bei qualifizierten Jobs
fehlen heute schon Menschen mit speziellen Profilen. Was sich noch
verschärfen wird. Teile der Wirtschaft fordern deshalb sogar, aktiv
um geeignete Kräfte aus dem Osten zu buhlen, bevor diese in anderen
europäischen Staaten eine Existenz finden. Die neue Freizügigkeit
könnte sich langfristig als Vorteil erweisen. Übertriebene Angst ist
in NRW schon aus geografischen Gründen nicht angebracht. Wachsamkeit
bei Fehlentwicklungen jedoch schon.

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