Westdeutsche Zeitung: Beim Flüchtlings-Streit geht es um viel mehr als Italiens Rolle Eine harte Bewährungsprobe für Europa

Martin Vogler

martin.vogler@wz-plus.de Berlusconis politisches Glück scheint
aufgebraucht. Erst blamiert er sich, als er mit ziemlich jungen
Mädchen Feste feierte, jetzt klappt auch politisch rein gar nicht
mehr. Gestern scheiterte er mit seinem Erpressungsversuch. Dadurch,
dass er tunesische Flüchtlinge einfach an andere Staaten in Europa
weiterreichte, wollte er die EU dazu zwingen, ihre Aufnahmepolitik zu
überdenken. Doch die Innenminister der anderen EU-Länder ließen sich
nicht auf diesen klaren Bruch des Schengener Abkommens ein. Sie
empfahlen den Italienern, das Problem bitteschön selbst zu lösen.

Das war unter dem Gesichtspunkt europäischer Vertragstreue richtig
und auch humanitär vertretbar. Da es sich bei den Tunesiern
überwiegend um Wirtschaftsflüchtlinge handelt, scheint eine Rückkehr
in ihr Heimatland zumutbar. Schon gestern Abend verstärke Italien
folgerichtig seine Abschiebe-Aktivitäten. Doch eine echte
Problemlösung ist das alles nicht.

Denn der EU-Vertrag ist nicht alles. Da gibt es die humanitäre
Verpflichtung, die greift, wenn Menschen – zum Beispiel Tunesier in
italienischen Auffanglagern – unter zweifelhaften Bedingungen
untergebracht sind. Verstärkt gilt diese humanitäre Note bei
politisch Verfolgten, wie etwa Libyern in Malta, bei denen die EU
bewusst andere Maßstäbe als im Fall der Tunesier anlegt. Doch all
diese Maßnahmen, vom Abschieben bis zu wohlmeinenden, aber häufig
blauäugigen Integrationsversuchen, sind untaugliches Flickwerk. So
lange die Verhältnisse im Norden Afrikas nicht so stabil sind, dass
die Menschen dort ihr finanzielles Auskommen haben und unbesorgt
leben können, gibt es wahrlich keine echte Problemlösung.

Die EU müsste deshalb vor Ort helfen. Doch jetzt hat sie wegen
ihres internen Streits sogar eine Baustelle mehr, die sie davon
abhält. Das ist bedauerlich, nicht nur unter humanitären Aspekten.
Denn das Flüchtlingsproblem droht zum dauerhaften Konfliktthema zu
werden. Europa könnte wegen Nordafrika jahrelang in kriegerische
Handlungen verwickelt werden, wirtschaftlich Schaden nehmen und von
Ölquellen abgeschnitten werden. Was dann kein exklusives Problem
Italiens oder gar des kleinen Maltas wäre, sondern eine extrem harte
Bewährungsprobe für das vereinte Europa.

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