Westdeutsche Zeitung: Der Tabubruch von Google weist in die Zukunft = Von Christoph Lumme

Als im 19. Jahrhundert die ersten Eisenbahnen
mit Getöse und Dampf durchs Land schmauchten, flohen viele Bauern
panisch von ihren Feldern. Und in der Wissenschaft hob eine Debatte
darüber an, ob der menschliche Körper einem Tempo von 50
Stundenkilometern auf Dauer gewachsen sei. Es ist wahrscheinlich,
dass die Deutschen in zehn Jahren ähnlich amüsiert über ihre eigene
Street-View-Phobie des Jahres 2010 denken. Tatsächlich schlägt Google
mit seinem Dienst ein neues Kapitel des digitalen Zeitalters auf, das
zunächst einmal ungeheuerlich wirkt. Erstmals greift das Netz
umfassend auf unsere Umwelt zu und verleibt sie sich ein. Die Grenzen
zwischen dem Lebensraum der Menschen und der virtuellen Welt
verschwimmen. Dies mag heute noch ein Tabubruch sein, morgen wird das
– mit oder ohne Google – zur Normalität gehören. Dennoch: Die
Erfassung der Welt darf nicht grenzenlos sein. Die Grenze verläuft an
der Schnittstelle öffentlicher Raum/Privatsphäre. Google fährt mit
seinen Kamerafahrzeugen auf diesem schmalen Grat entlang und macht
sich dann angreifbar, wenn der Balanceakt missglückt. Straßen, Plätze
und Gebäude gehören zum öffentlichen Raum, der jedem zugänglich ist
und von jedem fotografiert werden darf. Niemand entdeckt am
Bildschirm mehr, als er auch bei einer Autofahrt entdecken würde.
Insofern bietet Google für Kriminelle keinen Mehrwert. Problematisch
allerdings wird es, wenn das digitale Auge durch Fenster in Wohnungen
blickt, wenn fotografierte Personen und Autokennzeichen im Netz
erkennbar bleiben. Verdammenswert also ist nicht das Prinzip Street
View, bedenklich aber sind die handwerklichen Fehler des
Datenkonzerns. Wenn Bürger nun Nachbesserungen einfordern, ist dies
nur verständlich. Der typisch deutsche Wunsch jedoch, sich der
virtuellen Welt zu verschließen, läuft ins Leere. Das digitale
Zeitalter wird weltweit seinen Siegeszug fortsetzen. Die großen
Risiken dieser Entwicklung entstehen nicht durch Google Street View,
sondern durch Verlockungen, in Kommunikationsforen intime
Informationen preiszugeben. Die digitale Gesellschaft braucht zum
besseren Datenschutz keine Verbote, sondern einen Bewusstseinswandel
ihrer Mitglieder.

Pressekontakt:
Westdeutsche Zeitung
Nachrichtenredaktion
Telefon: 0211/ 8382-2358
redaktion.nachrichten@westdeutsche-zeitung.de