Westdeutsche Zeitung: Der unglaubliche Höhenflug hat unterschiedliche Ursachen – Die Grünen als Fast-Volkspartei Ein Kommentar von Martin Vogler

Ihnen geht es um den Umsturz dieses Staates, um
eine andere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.“ Das ist keine
aktuelle Einschätzung zur Linkspartei. Das Zitat stammt von Franz
Josef Strauß. Er attackierte damit 1985 die grünen „Rattenfänger“.
Die noch junge Öko-Partei hätte es allerdings zu diesem Zeitpunkt
nach Einschätzung eines anderen Unions-Politikers schon nicht mehr
geben dürfen, hatte ihr doch Helmut Kohl 1983 bei deren Einzug ins
Parlament maximal zwei Jahre politisches Überleben vorhergesagt.
Beide irrten. Der Umsturz blieb aus. In die Bedeutungslosigkeit
versanken die Grünen erst recht nicht. In Stuttgart stellen sie den
Ministerpräsidenten, in Düsseldorf regieren sie kräftig mit, und
bundesweit setzen sie womöglich zum Überholen der Union als stärkste
politische Kraft an.

Wie ist das möglich? Die Gesellschaft hat sich seit den 80er
Jahren gewaltig geändert. Über Ökologie wird nicht mehr nur in
Wohngemeinschaften ernsthaft nachgedacht, sondern in normalen
Reihenhäusern, Luxusvillen und Vorstandsetagen. Im Gegenzug haben
sich die Grünen auf die Gesellschaft zubewegt, sind weitgehend eine
ganz normale Partei geworden. Einer wie Winfried Kretschmann in
Stuttgart hätte von den Ur-Grünen ob seines bürgerlichen
Erscheinungsbildes und Lebensstils wohl nur Spott geerntet. Und heute
ist er ihr Star.

Dennoch dürften sich die Grünen schwer tun, zu einer echten
Volkspartei zu mutieren. Relativ kompromisslose Positionen lassen
sich am leichtesten aus der Opposition heraus vertreten. Als
kleinerer Partner in einer Koalition gelingt dieses Spiel ebenfalls
noch relativ einfach. In der Rolle des Stärksten wird es schwierig.
Was die Partei zum Beispiel noch beim Ringen um den Bahnhof in
Stuttgart spüren wird, zumal die Gräben zwischen Fundis und Realos
nicht wirklich zugeschüttet sein dürften.

Auch weil sie sich selbst in dieser Rolle nicht wohlfühlen, werden
die Grünen nicht zur echten Volkspartei werden. Zudem hat ihr
derzeitiger Höhenflug nicht nur weltanschauliche Ursachen, die Partei
profitiert immer noch von der Atomkatastrophe in Japan. Allerdings
wird sie Jahrzehnte eine starke Rolle spielen. Vor allem, wenn die
anderen Parteien weiterhin den Fehler machen, den Bürgern oft nicht
ernsthaft zuzuhören.

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