Westdeutsche Zeitung: Die zerstörten Weltbilder des Westens = Von Christoph Lumme

Wer in den vergangenen Tagen nüchtern die
deutschen Medien verfolgte, rieb sich verwundert die Augen: Wie
konnte es sein, dass die Doktorarbeit eines Ministers sämtliche
Debatten bestimmte, während der Aufbruch Arabiens fast schon zur
Marginalie verkam? Die Dissertation des Herrn zu Guttenberg wird in
fünf Jahren vergessen sein; die gegenwärtigen Umwälzungen im Nahen
Osten hingegen entfalten erst dann ihre historische Wirkung. Die
Unruhen sind die Initialzündung eines gewaltigen
Modernisierungsschubs, der in seiner Dimension an den Kollaps des
kommunistischen Herrschaftssystems in den 1980er Jahren erinnert. Wir
verdrängen die weltpolitische Bedeutung der arabischen Revolutionen
nur allzu gern, weil deren Bilder befremden und verunsichern: Es sind
Bilder, die lang gehegte Vorurteile über den Orient zerstören.
Spätestens seit den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 hatten
wir den islamischen Kulturkreis als Teil der zivilisierten Welt
abgeschrieben. Der Orient erschien als eine von der Aufklärung
vergessene Weltzone, deren Protagonisten geistig im Mittelalter
verharren, Frauen steinigen und der Moderne wütend den Dschihad
erklären. Der Orient galt als Region der Diktatoren, die im Idealfall
mit dem Westen paktieren, ihm Öl verkaufen und ansonsten ihre
impulsiven Völker mit eiserner Hand unter Kontrolle halten. Nun lässt
al-Gaddafi seine Bevölkerung mit Kampfjets bombardieren, und die
Regierungen des Westens müssen schockiert erkennen, was sie fast zehn
Jahre lang verdrängt haben – ihr Verbündeter ist „Hundert Prozent
krank im Kopf“, wie Ägyptens Präsident al-Sadat schon 1982 warnte.
Auch nehmen wir verwirrt zur Kenntnis, dass es sich bei den angeblich
so rückständigen Demonstranten in Ägypten, Tunesien, Bahrain und
Libyen keinesfalls um einen wilden Mob handelt, sondern um westlich
gekleidete junge Menschen, die das Internet perfekt beherrschen und
selbstbewusst ihre Bürgerrechte einfordern. Der Mythos vom
mittelalterlichen Orient liegt in Trümmern. Nun wird es Zeit, sich
mit der vielschichtigen Realität Arabiens ehrlich auseinanderzusetzen
– ohne dass Vorurteile und eine unglückselige Doktorarbeit den Blick
darauf verstellen.

Pressekontakt:
Westdeutsche Zeitung
Nachrichtenredaktion
Telefon: 0211/ 8382-2358
redaktion.nachrichten@westdeutsche-zeitung.de