Westdeutsche Zeitung: Politik und Gesellschaft driften immer weiter auseinander – Der Staat kann viel aus Stuttgart 21 lernen Von Anja Clemens-Smicek =

Die eigentliche Aufgabe der Bahn sollte es
sein, Menschen miteinander zu verbinden. Stuttgart 21 aber verbindet
nicht. Es spaltet vielmehr eine ganze Region in Befürworter und
Gegner des Bahnprojekts. Die Bilder von Polizisten, die mit Reizgas
und Wasserwerfern gegen Demonstranten vorgehen, zeigen sogar in
schonungsloser Deutlichkeit, dass Politik und Gesellschaft immer
weiter auseinanderdriften. Eine verheerende Entwicklung.

Nur Demonstrationsnostalgiker kämen aber auf die Idee, die Szenen
von Stuttgart mit den Schlachten gegen die Startbahn West oder das
AKW Brokdorf zu vergleichen. Die Protestkultur 2010 hat nichts mehr
gemein mit jener aus den 70er oder 80er Jahren. Denn es sind nicht
die üblichen Verdächten mit den radikalen Ansichten, denen es um
Konfrontation statt um Konsens geht und die den Abriss des
historischen Bahnhofs als Mittel zum Zweck missbrauchen. In
vorderster Front stehen auch nicht die Gewerkschafter und
Parteimitglieder mit ihren Transparenten, sondern Schüler,
Studienräte, Ingenieure und Rentner aus der sogenannten bürgerlichen
Mitte. Das ist kein Kampf gegen das Establishment, sondern Protest
aus ihm heraus. Genau das sollte der Politik eine Warnung sein.

Die Bürger nehmen das Heft selbst in die Hand, weil ihre
Volksvertreter in Starre verfallen oder sich wie Koch, Merz und Co.
gleich ganz verabschieden. Weil die Politik keine Antworten auf die
Fragen der Jugend hat, wie es um ihre Zukunft bestellt ist mit Blick
auf Staatsschulden, Altersversorgung oder atomare Endlagerung. Und
weil die Politik den Menschen vorlebt, dass Gesetze eine kurze
Halbwertszeit haben – sei es bei der Rente mit 67, den AKW-Laufzeiten
oder bildungspolitischen Weichenstellungen in den Ländern. Da fühlt
sich das Volk in seiner Politikverdrossenheit aufgerufen,
Entscheidungen auf der Straße zu blockieren.

Was kann der Staat aus Stuttgart 21 lernen? Dass er auch einen
16-jährigen demokratischen Entscheidungsprozess immer wieder erklären
und überprüfen muss. Was sollten die Gegner daraus lernen? Dass eine
gelebte Demokratie nur ihren Namen verdient, wenn sie sich über
Argumente definiert. Zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch gibt
es keine Alternative. Gewalt ist das Versagen jeglicher Vernunft.

Pressekontakt:
Westdeutsche Zeitung
Nachrichtenredaktion
Telefon: 0211/ 8382-2370
redaktion.nachrichten@westdeutsche-zeitung.de