Horst Seehofers so emotional wirkende Tat
versteht man am besten nach einem Blick auf nüchterne Zahlen: die
Prozente der CSU bei Landtagswahlen. 40 Jahre lang schien es so, als
sei es in der bayrischen Verfassung verankert, dass die Partei über
50 Prozent liegen muss. Noch 2003 schaffte Edmund Stoiber sogar das,
was einem Franz Josef Strauß nie vergönnt war, nämlich das
Überspringen der 60-Prozent-Marke. Und jetzt? Nachdem der damalige
Spitzenkandidat Günther Beckstein 2008 nur 43 Prozent holte, hat die
CSU ihre Sonderstellung im Freistaat verloren, und Seehofer braucht
zum Regieren die FDP als Partner. Solche Verhältnisse passen nicht
zum christlich-sozialen Machtanspruch. 2013 wird in Bayern neu
gewählt. Und alles andere als die Rückeroberung der absoluten
Mehrheit wäre als Ziel für einen wie Seehofer absurd. Mit dem
ZDF-Interview hat er schlicht den Wahlkampf eröffnet. Klar ist es
sehenswert, wie authentisch der Zorn aus Seehofer herausbricht. Er
ist wirklich sauer auf Norbert Röttgen und den missratenen Wahlkampf
in NRW. Er leidet wirklich, wenn die Union einen
Ministerpräsidentenposten nach dem anderen verliert. Und seine
gewachsene Distanz zum Politikstil Angela Merkels ist ebenfalls echt.
Seehofer schauspielert nicht. Ins Reich der Legende gehört allerdings
die Interpretation vom unkontrollierten Ausbruch des Alpenvulkans,
wie sie gestern gesponnen wurde. Als mit allen Wassern gewaschener
Politiker wusste Seehofer sehr wohl, was er auslöst, wenn er der
Veröffentlichung eigentlich nicht fürs Versenden gedachter
Gesprächsteile zustimmt. Das war nicht spontan und auch nicht durch
die allerdings sehr geschickte Moderation Claus Klebers animiert. Das
zerbrochene Unions-Porzellan hatte Seehofer einkalkuliert. Was nicht
zuletzt dadurch klar wird, dass er gestern seine Thesen im Münchner
Kabinett wiederholte. Viele von Politiker-Floskeln ermüdete Bürger
dürften Seehofers Eruption als erfrischend und wohltuend empfunden
haben. Das gibt der CSU Auftrieb. Deshalb schert es den bayrischen
Ministerpräsidenten auch wenig, dass er große Teile der Union vor den
Kopf stößt. Er wäre allerdings gut beraten, wenn er nicht weiter auf
Röttgen einschlüge. Das wäre ganz übler Stil, weil dieser sowieso am
Boden liegt.
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