Westdeutsche Zeitung: Verfassungsreferendum offenbart die SpaltungÄgyptens = von Anja Clemens-Smicek

Mohammed Mursi kann feiern – die neue,
umstrittene ägyptische Verfassung. Doch im Grunde ist es nur ein
Pyrrhus-Sieg, teuer erkauft mit wochenlangen, blutigen Protesten, dem
Vorwurf der Wahlfälschung und einem zutiefst gespaltenen Land. Denken
wir nur sechs Monate zurück: Damals hatte Mursi bei seiner Wahl zum
Staatsoberhaupt versprochen, der Präsident aller Ägypter sein zu
wollen. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Zwar hat die Mehrheit
der Ägypter für das von Islamisten geschriebene Regelwerk gestimmt,
aber es ist eine trügerische Mehrheit. Nicht einmal ein Drittel der
wahlberechtigten Bürger ist überhaupt an die Urnen gegangen. Den
meisten Menschen, allen voran den Bewohnern in den ländlichen
Regionen, sind die Machtkämpfe in Kairo herzlich egal. Sie sind
beschäftigt mit dem täglichen Kampf ums Überleben. Muslimbrüder und
Salafisten können jetzt zwar feiern, in allzu großer Sicherheit
wiegen sollten sie sich aber nicht. Mit der Verfassung haben sie zwar
den ersten Schritt hin zu einem Gottesstaat getan, ein Staat, in dem
die Bürgerrechte im Allgemeinen und die der Frauen im Besonderen mit
Füßen getreten werden. Ob die radikalen Kräfte indes an der Macht
bleiben, dürfte nicht zuletzt davon abhängen, ob es ihnen gelingt,
Arbeitsplätze zu schaffen. Denn letztlich stürzte auch Dauerherrscher
Husni Mubarak über die nicht gelöste soziale Frage. Hier liegt die
einzige Chance für die zersplitterte Opposition. Liberale, Linke und
Christen müssen gemeinsam ein politisches Gegenkonzept entwickeln,
das den Ägyptern Einkommen, Bildung und eine für alle zugängliche und
bezahlbare Krankenversorgung in Aussicht stellt. Gesucht sind Wege,
die Wirtschaft zu konsolidieren, die unter den gesunkenen
Touristenzahlen und ausbleibenden Investitionen aus dem Ausland
leidet. Nur so lassen sich die 70 Prozent Nicht-Wähler mobilisieren.
Es reicht nicht aus, auf der Straße gegen die islamistische
Herrschaft zu opponieren. Das haben die vergangenen Wochen gezeigt.
Die Zeit drängt. Schon im Februar gibt es Parlamentswahlen in dem
bevölkerungsreichsten arabischen Land. Von deren Ausgang hängt es ab,
ob Ägypten tatsächlich zu einem Staat wird, in dem die Islamisten
schalten und walten können, wie sie wollen.

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