Unsere Politiker seien farblos und austauschbar,
heißt es oft. Otto von Bismarck war das jedenfalls nicht, er war das 
Gegenteil davon: ein eitler, kühl kalkulierender Macht- und 
Karrieremensch, ein Frauenheld und gleichzeitig ein Ehemann, der 
seiner Johanna von Puttkamer 1000 Briefe schrieb, die sich manchmal 
wie Poesie lesen. Hätte es zu seiner Zeit das Fernsehen, die 
politischen Magazine und die Boulevardblätter in dem Ausmaß wie heute
gegeben, Bismarck hätte die Sendeminuten und Seiten problemlos 
gefüllt. Er wusste, wie man Aufmerksamkeit auf sich zieht – zum 
Beispiel durch provokante Sätze wie: »Nicht durch Reden und 
Majoritätsbschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, 
sondern durch Eisen und Blut.«
   Zwar ist es problematisch, einen Staatsmann aus dem 19. 
Jahrhundert an der Jetztzeit zu messen. Trotzdem sei die Frage 
erlaubt: Taugt der Eiserne Kanzler als politisches Vorbild für die 
Gegenwart? Nein. Bismarck bekämpfte demokratische Bestrebungen und 
hatte auch für nationale Gefühle wenig Verständnis. Er 
instrumentalisierte beide Strömungen nur, um 1871 ein einheitliches 
Deutschland von oben, also ohne das Volk, zu schmieden. Und das mit 
dem Ziel, die Regierungsform der Monarchie und die Vormachtstellung 
Preußens zu erhalten.
   Damit leitete Bismarck das ein, was Historiker den »deutschen 
Sonderweg« nennen. Weil der Adel und die Offiziere herrschten, und 
mit Abstrichen noch die Großgrundbesitzer und die Großindustriellen, 
bestimmten Autoritätshörigkeit und Militarismus das Kaiserreich. Der 
Mangel an demokratischer Kultur machte es der Weimarer Republik 
schwer und Hitler leicht. Dagegen war die Vereinigung Deutschlands 
1990 von unten eingeleitet – nicht durch Kriege, sondern durch 
friedliche Demonstrationen.
   Bismarck war ein Politiker, für den der Zweck die Mittel heiligte.
Mit der von ihm gekürzten Emser Depesche verschärfte er die 
diplomatische Krise zwischen dem Norddeutschen Bund unter Preußens 
Führung und Frankreich noch, anstatt sie zu entschärfen. Bismarck, 
aber auch Napoleon III., riskierte bereitwillig den Krieg, den 
Frankreich 1871 verlor.
   Zu Bismarcks Stärken gehörte die Fähigkeit vorauszuschauen. Nach 
dem Sieg über Österreich 1866 hielt er den preußischen König von 
Eroberungen ab, und nach 1871 predigte er mitten im Nationaltaumel 
Mäßigung. Deutschland brauche keine Kolonien in Afrika, betonte er im
Zeitalter des Imperialismus.
   Innenpolitisch fällt Bismarck als Vorbild für heutige 
Politikergenerationen aus. Er betrieb Klientelpolitik, verteidigte 
zäh die Privilegien des Landadels und spielte die gesellschaftlichen 
Gruppen gegeneinander aus. Katholiken gegen Protestanten, Arbeiter 
gegen Industrielle. Bismarck vergiftete – wenn auch natürlich nicht 
allein – das Klima in der Gesellschaft: Deutschland war nach seinem 
Tod 1898 ein Staat, in dem sich die Klassen unversöhnlich 
gegenüberstanden.
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