Sechs Tage nach dem Wirbelsturm »Sandy« haben
fast drei Millionen Menschen an der Ostküste der USA keinen Strom,
auch Benzin und Heizöl sind knapp. Kanada mitgezählt kamen 108
Menschen ums Leben. Eine Katastrophe. Allerdings: Kein Strom, kaum
Benzin und nichts zum Heizen ist für Millionen Menschen gleich
nebenan in der Karibik Dauerzustand. Wenn dort die Natur zuschlägt,
sind die Folgen ungleich härter und länger anhaltend. Im Armenhaus
Amerikas hat »Sandy« 67 Menschen unmittelbar in den Tod gerissen. Das
wird gemeldet, aber das war es auch schon. Niemand spricht darüber,
was es heißt, wenn ganze Dörfer in einer braunen, aus den Kloaken
aufgespülten Brühe stehen. Wer weiß davon, dass zerstörte Ernten den
sicheren Hungertod in wenigen Monaten bedeuten? Was ist eigentlich
schlimmer? Dass auf Haiti seit dem verheerenden Erdbeben vor knapp
drei Jahren die Cholera wütet und 7600 Seelen geholt hat, oder dass
sich die Zahl der 600 000 sowieso schon an Durchfall Erkrankten in
diesen Tagen explosionsartig erhöht? Nur beiläufig wird zur Kenntnis
genommen, dass der Starkregen auf Kuba 150 000 Häuser zum Einsturz
gebracht hat. Man könnte einfach das Castro-Regime anprangern, das
für die Verrottung eines ganzen Staates in der Tat verantwortlich
ist. Aber wäre das hilfreich, gar human? Erlauben Armut,
Unzulänglichkeiten und hausgemachte Probleme, dass wir uns
desinteressiert wegdrehen? Natürlich nicht. Im Gegenteil: Die meisten
Menschen würden auch diesmal helfen, wie schon nach dem Erdbeben mit
220 000 Toten oder den Wirbelstürmen, die Kuba und Puerto Rico mit
biblischen Plagen beschwerten. Schuld am Desinteresse ist unsere vom
Geschehen in den USA dominierte Wahrnehmung. Weil dort die großen
TV-Stationen rund um die Uhr live auf Sendung gehen, verschieben sich
Gewichte. Wo bleiben die TV-Teams in den karibischen Slums?
Stattdessen sehen wir angeblich heldenhafte New Yorker oder den wie
die Mondlandung dokumentierten »Landfall« von »Sandy« nahe den
Casinos von Atlantic City. Keine Frage: Das ist von Interesse. Das
sind die Themen, bei denen jeder mitreden kann und möchte. Wir alle,
Medienkonsumenten wie Medienmacher, sollten uns allerdings fragen,
wieso blinde Flecken trotz eines überbordenden Informationsangebots
möglich sind. Wir alle sehen eine lange Schneise der Zerstörung,
blicken aber ausgerechnet auf den Teil, der sich noch am besten
selbst helfen kann. In den US-Baumärkten liegen massenhaft
Spanplatten und Zementsäcke bereit, damit sich die Wohlstandsbürger
ans Aufräumen machen können. Auf Haiti fängt der Notstand dagegen
erst an. Auch auf Kuba können die weggespülten Äcker nach dem Ende
der Regenzeit gar nicht mehr bestellt werden. Das Saatgut würde
vertrocknen. Aber wen interessiert das schon?
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