Viel und oft auch mit Wonne ist zuletzt darüber
spekuliert worden, ob wir es mit so etwas wie der
»Kanzlerindämmerung« zu tun haben. Angela Merkels Kurs in der
Flüchtlingspolitik und die Widerstände dagegen aus den eigenen Reihen
haben diese Fantasie kräftig beflügelt – und bei manchem
Journalisten dürfte auch der Wunsch der Vater des Gedankens
gewesen sein. Am Ende aber standen ein klares Votum des Karlsruher
Parteitages und die für die Union durchaus ernüchternde Erkenntnis,
dass CDU und CSU momentan bei einem Sturz der Kanzlerin wohl mehr zu
verlieren hätten als Angela Merkel selbst. Gleichwohl ist die
Kanzlerin jetzt unter Zugzwang: An der weiteren Entwicklung in der
Flüchtlingsfrage (und damit verbunden an der Frage, ob und wie die
Euro-Krise wieder aufflammt) wird sich die Stimmung in der Union und
im Land fürs Erste festmachen. Und CSU- Chef Horst Seehofer
macht keine Anstalten, das Zündeln zu lassen. Sein jüngster
Vorstoß: Für 2016 soll die Obergrenze der Flüchtlinge bei
200 000 liegen. Mehr als einen Stimmungstest dürfte da der 13.
März bringen, wenn in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und
Sachsen-Anhalt gewählt wird. Bei der Fokussierung auf die Person der
Kanzlerin wird allerdings oft übersehen, dass vor allem für die SPD
in diesem Wahljahr 2016 viel auf dem Spiel steht. In allen fünf
Bundesländern – im Herbst stehen noch die Urnengänge in Berlin und in
Mecklenburg-Vorpommern an – sind die Sozialdemokraten derzeit an der
Regierung beteiligt, dreimal stellt sie den Ministerpräsidenten. Die
These heißt: Die SPD kann nur verlieren. Im schlechtesten Fall muss
sie Rheinland-Pfalz an die aufstrebende CDU-Vize Julia Klöckner
abtreten und in Baden-Württemberg zusehen, wie Winfried Kretschmann –
pragmatisch wie er ist – seinen Grünen den Weg für eine Koalition mit
der CDU ebnet, ehe er selbst die politische Bühne verlässt. Eine
neue Hoffnungsträgerin in der personell noch immer weithin
alternativlosen Merkel-CDU und dazu eine weitere schwarz- grüne
Länderregierung nach Hessen: Das wäre das Horrorszenario für die
SPD wie für Sigmar Gabriel persönlich, dem schon der
Parteitag gewaltig zugesetzt hatte. Endgültig stünde die Frage
im Raum, ob ein derart ramponierter Spitzenmann als
Kanzlerkandidat taugt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass
ausgerechnet das jüngste Erstarken der AfD all diesen Entwicklungen
Vorschub leisten könnte. Die Wahlarithmetik will es so, dass diese
Dagegen-Partei, die Merkels Flüchtlingspolitik geißelt wie keine
andere politische Kraft, die Chancen der CDU in den Ländern
kurzfristig sogar eher verbessert. Langfristig jedoch ist das für
die Union ein Ritt auf der Rasierklinge. Angela Merkel kann ihn
nicht wollen und jeder vernünftige Politiker auch nicht. Denn da
lauert die eigentliche Gefahr für die Union und für die Kanzlerin –
vor allem aber für unser Land.
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Westfalen-Blatt
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Andreas Kolesch
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