Der türkische Premierminister Erdogan hat die
Parlamentswahlen haushoch gewonnen und kann nun zwei Ziele umsetzen:
die Wirtschaft mit fast chinesischen Wachstumsraten weiter voran
bringen und eine neue Verfassung mit Hilfe aller Bürger und Parteien
durchsetzen. Erdogan hat die Türkei acht Jahre lang gegen reaktionäre
Kemalisten und Militärs reformiert und stabilisiert. Die
internationale Finanzkrise hat keine einzige türkische Bank
vernichtet, was auch ohne den Weltwährungsfonds gelang. Jetzt hat
Erdogan gute Chancen, seinen Reformkurs und die wirtschaftliche
Entwicklung fortzusetzen. Die ökonomischen Daten sind beeindruckend:
Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich während seiner neunjährigen Amtszeit
verdreifacht, das Wachstum liegt bei neun Prozent, die öffentlichen
Schulden sind halb so hoch wie in Deutschland, und die
Arbeitslosigkeit ist unter zehn Prozent gesunken. Diese türkische
Erfolgsgeschichte sucht in Europa Ihresgleichen. Der fromme Erdogan
weiß, dass dieser Erfolg nicht von Allah stammt, sondern von kluger
Politik, die der Nachbar Griechenland offenbar nicht kennt. Erdogan
will das Pro-Kopf-Einkommen verdoppeln, Staudämme, Atomkraftwerke,
Schnellzüge und Flughäfen bauen und das freie Unternehmertum fördern.
Eine Allianz aus religiös-konservativen Politikern und erfolgreichen
Konzernen bringt die Türkei voran. Als »Freund der Reichen und Held
der Armen« will Erdogan sein Land in bessere Zeiten zu führen.
Inzwischen sind jedoch die Beitrittsverhandlungen mit der EU ins
Stocken geraten. Zwar kann Erdogan beachtliche Reformen vorlegen,
doch bisher wurde erst eines der 35 Beitrittskapitel abgeschlossen.
Das liegt nicht nur an der Türkei: Frankreich, Österreich,
Deutschland und andere EU-Mitglieder sperren sich. Das hat man in
Ankara und Istanbul enttäuscht registriert. Als die Türkei noch arm
und unterentwickelt war, zeigte Europa nur wenig Interesse an einer
türkischen EU-Mitgliedschaft. Der rasante Fortschritt hat nun eine
Situation geschaffen, bei der Europa die Türkei bald mehr brauchen
könnte als umgekehrt. Stabilität, Wachstum, Vollbeschäftigung, eine
niedrige Inflationsrate und wenig öffentliche Schulden sind Daten,
nach denen sich Europa sehnt. Die türkische Erfolgsgeschichte kann
die EU beleben und wirtschaftlich bereichern. Eine starke,
hochentwickelte und stabile Türkei wäre ein nützliches EU-Mitglied.
Doch Brüsseler Bürokraten und manche Politiker wollen diese Chance
nicht sehen. Sie verschanzen sich hinter kulturell-religiösen
Vorurteilen, schüren Ängste und verpassen eine historische
Gelegenheit. Wer könnte es den Türken verdenken, wenn sie sich
enttäuscht von Europa ab- und Russland, Indien oder China zuwenden?
Noch ist es nicht zu spät, die Türkei in die EU aufzunehmen und die
türkische Erfolgsgeschichte auch für Europa zu nutzen.
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Andreas Kolesch
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