Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Mursis Besuch in Berlin

Mursi lernt noch: Auf diese extrem vereinfachte
Linie lassen sich alle Begründungen dafür reduzieren, dass der
ägyptische Präsident gestern in Berlin empfangen wurde. Der ehemalige
Chef der in Ägypten jahrzehntelang verfolgten Muslimbruderschaft
vermischt Eigen- und Gemeininteresse, er entmachtet die Justiz und
hat kein Problem damit, eine Verfassung durchzusetzen, die keine
demokratische Legitimation hat. Tagespolitisch einfacher wäre eine
kurzfristige Besuchsabsage von deutscher Seite gewesen. Die blutigen
Unruhen, die seit vergangenen Freitag mindestens 55 Todesopfer
gefordert haben, wären ein schlüssiges Argument für die Ausladung
gewesen. Dazu ist es nicht gekommen. Mursi ist demokratisch gewählt,
aber noch lange kein Demokrat. Er schickt das Militär auf die
Straßen, spaltet statt zu versöhnen und erweist sich binnen kürzester
Zeit als neuer Husni Mubarak. Wie sein gestürzter Vorgänger blickt
Mursi auf die Opposition hinab und hält politische Gegner
grundsätzlich für Verräter. Dabei sollte er die jungen Leute, die ihm
den Weg an die Staatsspitze bereitet haben, schätzen und schützen,
aber nicht schikanieren und schänden. Das ägyptische Staatsoberhaupt
kam gestern als Bittsteller nach Berlin. Das Land befindet sich
innerlich im Ausnahmezustand und steht international kurz vor dem
Bankrott. Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) hat schon im
Dezember die Zusammenarbeit weitgehend gestoppt, der Internationale
Währungsfonds macht Auflagen, die viele Geldgeber vor neuen Krediten
zurückschrecken lassen. Der Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit scheint
nur noch eine Fragen von Wochen zu sein. Mursi musste sich gestern
unangenehme Fragen gefallen lassen: In der Pressekonferenz machten
vor allem ägyptische Journalisten Gebrauch von der Möglichkeit,
knallhart Festlegungen zur Dauer des Ausnahmerechts in seinem Lande
zu verlangen. Auch im Kanzleramt dürfte es von Angela Merkel
unmissverständliche Mahnungen zur Einhaltung der Menschenrechte
gegeben haben. Als drittes begab sich Mursi in den Auswärtigen
Ausschuss des Bundestages, wo er sich freigewählten und überaus
selbstbewussten Abgeordneten stellte. Allein die Begegnung unter
anderem mit Hans-Christian Ströbele (Grüne), Heidemarie
Wieczorek-Zeul (SPD), Philipp Mißfelder (CDU) und Peter Gauweiler
(CSU) dürfte eine Lektion in Demokratie und Parlamentarismus gewesen
sein. Deutschland denkt langfristiger. Ägypten ist im Nahen Osten zu
wichtig, als dass man das Land so lange links liegen lassen könnte,
bis wieder bessere Zeiten kommen. Es gibt nur diesen einen starken
Mann am Nil. Der reiste gestern Abend mit leeren Händen wieder ab,
hat aber vielleicht auch etwas gelernt.

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