Formal gesehen gibt es keinen Grund zur
Aufregung. Nord- und Südkorea befinden sich seit 60 Jahren im
Kriegszustand. Was sind da schon 100 Granateinschläge? Antwort:
Möglicherweise der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Denn
Nordkorea hat sich durch eigenes Unvermögen in eine dramatische
Notlage manövriert. Das Volk hungert regelmäßig zwischen
Frühjahrsanfang und Erntebeginn im Mai/Juni. Die Gesundheits- und
Sozialversorgung sind katastrophal. Das Nuklearprogramm blutet den
Staat aus. Die Friedensgespräche stagnieren. Deviseneinnahmen gibt es
kaum und die Militärs drohen bei der geringsten politischen
Annäherung, ihre privilegierte Stellung zu verlieren. Sie könnten
versucht sein, in der gegenwärtigen Phase des Machtübergangs von Kim
Jong Il an dessen Sohn Kim Jong Un das Machtvakuum zur Profilierung
oder sogar zur internen Machtprobe zu nutzen. In dieser Situation hat
Südkorea Seemanöver in einem vom Norden nie anerkannten Grenzkorridor
abgehalten. Nach internationalem Recht war das zulässig, politisch
gesehen aber fahrlässig. Der Hickhack reiht sich ein in die lange
Spur vieler kleiner Nadelstiche, mit denen beide Seiten eine
friedliche Annäherung immer wieder unterlaufen. Ganz klar: Nordkorea
ist hier der Aggressor, aber Südkorea besteht seinerseits darauf, den
ökonomischen Siegeszug auf anderen Gebieten fortzusetzen. Letztlich
stellen beide Seiten die Alles-oder-nichts-Frage. Eine Lösung aus
eigener Kraft ist damit ausgeschlossen. Deshalb kommt es jetzt auf
die USA, auf Russland und ganz besonders auf Pjöngjangs Schutzmacht
China an. Immerhin war die Reaktion aus Peking gestern zurückhaltend.
Denn allen Bruderküssen und Solidaritätsadressen zum Trotz hat den
große Nachbar immer weniger Freude an dem aus seiner Sicht zumindest
skurrilen Zwerg im Süden. Die fortwährende Teilung der Halbinsel
liegt in Chinas Interesse. Eine bessere Abschirmung als durch das
Land der Betonkommunisten kann es nicht geben. Allerdings ist auch
Ruhe erste Vasallenpflicht. Die USA ihrerseits könnten gezwungen
sein, weniger hart gegenüber Nordkorea aufzutreten und den Konflikt
mit Zugeständnissen zu entschärfen. Tatsächlich gilt in Washington
schon lange nicht mehr das Bush-Wort von der »Achse des Bösen« –
Iran-Irak-Nordkorea. Aber: Die Obama-Administration setzt mindestens
ebenso beinhart auf den Kollaps der gescheiterten Planwirtschaft wie
deren Vorgänger. Das Drama: 24 Millionen Nordkoreaner bleiben Geiseln
einer Politik des Stillstands, die kaum einer wirklich ändern will.
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