Was bleibt am Ende dieser historischen Woche?
Ist die Welt durch Osama Bin Ladens Tod nun sicherer oder unsicherer
geworden? Die Antwort steht aus, wenn es überhaupt je eine geben
kann. Mit Gewissheit aber lässt sich eines sagen: Die Welt ist noch
komplizierter geworden. Grenzen verschwimmen. Was ist das Gute, was
ist das Richtige? Diese Woche hat verstörende Fotos gebracht, auch
wenn das eine Foto des toten El-Kaida-Chefs zum Glück nicht dabei
war. Bei allem Verständnis für Amerikas Seele haben die Bilder der
Massen, die Bin Ladens Tod bejubeln, etwas Befremdliches, ja
Abstoßendes. Warum? Weil sie den Bildern so ähnlich sind, die wir
verabscheuen. Jenen Bildern aus der arabischen Welt, auf denen man
die Flaggen der USA, Israels und anderer Staaten brennen sieht, nach
dem Karikaturenstreit beispielsweise die Flagge Dänemarks. Und jenen
Bildern, auf denen man eifernde Demonstranten sieht, wie sie das
Konterfei des US-Präsidenten zertreten. Nun war es andersherum.
Tausende Amerikaner, unter ihnen viele junge Menschen, trugen
Schilder mit Slogans wie »Obama 1, Osama 0« und »Schmor in der
Hölle«. Tageszeitungen titelten »Wir haben ihn«. Plötzlich war das
Nahe so fern und das Ferne so nah. Rache, Vergeltung, Hass – waren
das nicht alles Dinge, die die westlichen Demokratien stets
konsequent zurückweisen, weil sie ihren Wert gerade auch aus dieser
Zurückweisung ziehen? Und Freude über den Tod des Topterroristen?
Steht ganz sicher Brüder und Schwestern, Väter und Müttern, Söhnen,
Töchtern, Freunden und Arbeitskollegen aller Opfer zu. Ihre Gefühle
sind nur zu menschlich. Von einem deutschen Regierungschef hingegen
muss man deutlich mehr Mäßigung erwarten. »Ich freue mich darüber,
dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.« Sicher wirkt dieser Satz
von Angela Merkel im Gesamtzusammenhang anders als für sich allein
genommen. Dennoch bleibt auch er verstörend. Nicht nur, weil diese
Kanzlerin zugleich Vorsitzende einer Partei mit dem Namen Christlich
Demokratische Union ist, sondern einfach, weil sie eine herausragende
Repräsentantin der Bundesrepublik ist. Damit steht ihr Wertekanon
stets auch für den Wertekanon unseres Landes. Ein Land, in dem nun
auch debattiert wird, ob die Fotos des toten El-Kaida-Chefs nicht
doch veröffentlicht werden müssen. Dabei würde das niemandem helfen,
sich ein genaues Bild zu machen. Dafür braucht es einzig und allein
mehr Informationen. Viele Details der US-Operation stellen sich heute
ganz anders dar als zu Wochenbeginn. Uns Journalisten sollte das
Ansporn und Mahnung zugleich sein. Sorgfalt muss über allem stehen,
gerade im schnellen Urteil ist besondere Vorsicht geboten. Osama Bin
Laden ist für den Tod tausender Menschen verantwortlich. Stets hat er
sich der in seinem Namen begangenen Taten gerühmt. Er wird der Welt
nicht fehlen. Doch die Welt wird noch lange an seinem Ende und an
seinem Erbe tragen. Auch das ist das verstörende Resultat dieser
historischen Woche.
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Andreas Kolesch
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