Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Russland

Noch nie wurde Boris Nemzow, der ermordete
Putin-Kritiker, so oft zitiert wie in den jüngsten Tagen. Wer aber
hörte dem lebenden Nemzow zu, als er Russlands Wandel zum Mafiastaat
beklagte, als er die künstlich aufgeheizte Atmosphäre gegen jede
andere Meinung anprangerte und mit Fingern auf Korruption und
Korrumpierte wies? Ja, es gibt immer noch eine Opposition im System
Putin. Sie ist zu schwach und zu sehr gegängelt, um Wahlen zu
gewinnen. Aber sie ist so aufrichtig und so unbeirrbar, dass sie
Pfahl im Fleische bleibt, selbst wenn der Maidan nie Moskau erreicht.
Der Trauermarsch hat gezeigt, dass es neben
nationalistisch-faschistoiden Kräften auch noch Demokraten gibt.
Zehntausende, die Polizeiknüppel und Schikanen fürchten mussten, sind
direkt am Kreml auf die Straße gegangen. Sie sind es, die zu Recht
die russische Fahne tragen. Nicht sie verraten das Vaterland, sondern
die, die sie Vaterlandsverräter schimpfen und ungestraft für
vogelfrei erklären können. Es gibt immer noch Menschen und
Organisationen, die trotz des Drucks von Presse, Justiz und
Geheimdienst in Russland nicht aufgegeben haben. Deshalb wird es
Zeit, genau hinzuhören, was die Soldatenmütter, die
Menschenrechtsgruppe Memorial, was Alexei Nawalny, Garri Kasparow,
auch Michail Chodorkowski und viele andere zu sagen haben. In
Russland gibt es mehr Lebendigkeit und Widerstandsgeist, als die
Staatsmedien die Russen, und auch uns in Europa, glauben machen
wollen.

– Tschetschenien, Georgien, Ukraine: Putin führt ständig Krieg
nach innen und außen.
– Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Alexander Litwinenko:
Die politischen Morde der Ära Putin sind alle noch nicht
aufgeklärt.

Gerade deshalb darf Europa die Russen nicht abhaken, sondern muss
ihre Zivilgesellschaft ermutigen. Ja, es gibt auch im neuen, alten
Zarenreich eine Idee von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Die
Menschen wollen Frieden und bescheidenen Wohlstand. Vor allem gibt es
ein Gespür für Gerechtigkeit. Weshalb sonst beklagt nahezu
ausnahmslos jeder Russe Bestechung und staatliche Gewalt in seinem
Land? Deutschland sollte jetzt nicht der Kälte und Abschottung das
Wort reden, sondern Offenheit anbieten. Kein Gesprächskanal darf aus
Wut oder Enttäuschung zugeschüttet werden, Kontakte müssen auf allen
Ebenen erhalten bleiben. Der Studentenaustausch muss gefördert,
Politiker in Diskussionen gezwungen und die gewollte Isolation
gebrochen werden. 6000 deutsche Unternehmen in Russland, 1000
Schulpartnerschaften, Billigflüge und unser Gegenmodell zur keimenden
Diktatur sind Brücken, die die russische Propaganda überspannen. Dazu
bedarf es aber auch der Aufhebung der Visumspflicht für russische
Bürger, gerade weil die Einreiseverbote für Oligarchen und die
Wirtschaftssanktionen bleiben müssen.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
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