Auch Grün-Rot versteht sich auf politischen
Etikettenschwindel: Was Nils Schmid gestern einen Durchbruch im
Streit um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 nannte, ist bloß ein
Formelkompromiss. Grüne und SPD haben die Blamage fürs Erste
abgewendet. Das Ende aber bleibt offen. Die Hoffnung der
Demnächst-Koalitionäre ruht nun voll und ganz auf dem noch unter
Schlichter Heiner Geißler ersonnenen Stresstest. Insbesondere die
Grünen müssen darauf setzen, dass am Bahnkonzept Nachbesserungen
notwendig werden, die die Gesamtkosten deutlich über die festgesetzte
Grenze von 4,5 Milliarden Euro steigen lassen. Dann könnte das Land
politisch und rechtlich unfallfrei aussteigen, das Projekt hätte sich
wohl von selbst erledigt. Wenn man von der Frage absieht, wie lange
die baden-württembergische Landeshauptstadt dann auf einen modernen
Bahnhof warten müsste. Bis die Ergebnisse des Stresstests jedoch
vorliegen, soll die Koalition längst gebildet sein. So hilft das
Moratorium Grün-Rot aus der größten Not. Diese Not allerdings wird
mit voller Wucht zurückkehren, wenn der Stresstest nicht das
gewünschte Ergebnis bringt. Nirgendwo sind die Partner so weit
auseinander wie hier. Die SPD ist für den unterirdischen Bahnhof, die
Grünen wollen ihn mit aller Macht verhindern. Ein Konflikt, für den
man im Wahlkampf eine Lösung gefunden zu haben glaubte, die sich
längst als schöner Schein entpuppt hat. Das Volk sollte abstimmen.
Dann kam der Wahlsieg und mit ihm die Zweifel bei den Grünen. Grund
dafür ist die Landesverfassung, die für Volksabstimmungen ein Quorum
von 33 Prozent vorsieht. Das heißt: Die S21-Gegner benötigen nicht
nur eine einfache Mehrheit, um das Projekt zu stoppen, sondern auch
mindestens 2,5 Millionen Stimmen, was jenem Drittel der
Wahlberechtigten entspricht. Das aber gilt als nahezu unerreichbar.
Weil aber nicht sein kann, was nicht sein darf, suchen die Grünen
verzweifelt nach einem Ausweg. Für eine Verfassungsänderung bedürfte
es der Hilfe der Opposition. Doch die CDU blieb bisher hart. Was
Wunder, ist doch der politische Preis, den die Christdemokraten für
das Bahnhofsprojekt gezahlt haben, auch so schon hoch genug.
Verabschiedet haben sich die Grünen nun offenbar auf Druck der SPD
von einer anderen Finte. Nach Kretschmanns Vorstellungen sollte eine
einfache Mehrheit im Volksentscheid als neuer Arbeitsauftrag für das
Parlament dienen. Kreativ, aber nicht verfassungskonform, befand
SPD-Spitzenmann Nils Schmid knapp, aber vollkommen zu Recht. Doch
ganz ohne Schrammen dürfte selbst ein regulärer Volksentscheid auch
für die SPD nicht abgehen. Schließlich müsste man im Vorfeld
Wahlkampf gegen den Koalitionspartner machen. Das freilich ist nichts
gegen die Not der Grünen. Der eigene Ministerpräsident Winfried
Kretschmann als Vollstrecker von Stuttgart 21 – das ist ein einziges
Horrorszenario für alle Grünen.
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Andreas Kolesch
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