Ganz klar: Julia Timoschenko ist eine politische
Gefangene. Damit erleidet die frühere Regierungschefin das gleiche 
Schicksal wie zigtausend politisch Unbotmäßige in den vielen 
Unrechtsstaaten dieser Welt. Schon deshalb ist das Urteil von gestern
auch ein Stück Hoffnung auf etwas mehr Gerechtigkeit in vielen 
Ländern dieser Welt. Den Spruch des Europäischen Gerichtshofes zum 
unzulässigen Wegsperren Timoschenkos sollte sich Präsident Viktor 
Janukowitsch hinter den Spiegel stecken. Ob er es tut, bleibt 
allerdings abzuwarten. Bislang hat ihm seine Arroganz Macht 
ermöglicht, immer wieder durchschlüpfen zu können. Denn: In Kiew 
versagt der Spiegel an der Wand als Mittel zur Selbsterkenntnis. Der 
Präsident weigert sich, der unangenehmen Wahrheit ins Auge zu sehen. 
Die lautet: Sein Staat erfüllt europäische Rechtsstandards nicht – 
dabei ist es ganz egal, welche Ausflüchte er in den bald wöchentlich 
stattfindenden Gesprächen mit Vertretern Europas auch sucht. Ein 
Beispiel: Ukrainische Staatsanwälte haben bis heute die gleiche 
Stellung, wie sie ihnen zu unseligen Sowjetzeiten eingeräumt wurde – 
nämlich als eine Art Vorinstanz, die auf staatliche Weisung den 
Verlauf eines Berichtsverfahrens vorgibt. »Es gibt keine faire 
Rechtsprechung in der Ukraine.« Timoschenko hat Recht mit ihrer 
Klage. Tatsächlich bedeutet die international kritisierte »selectice 
justice«, dass eben nicht alle vor Gericht gleich sind. Die 
englischsprachige Formel der Diplomaten lässt sich nur unzureichend 
ins Deutsche übertragen. Aber das damit beschriebene Übel ist 
unverkennbar – und kommt in den unterschiedlichsten Ausprägungen in 
allen Regimen dieser Welt vor. Das Ergebnis ist stets dasselbe: 
Unfreiheit. Die Ukraine möchte Mitglied der Europäischen Union 
werden, aber nicht von ihrem alten Staatsdirigismus lassen – und wohl
auch die politisch-korrupten Strukturen im Hintergrund bewahren. 
Trotz mehrerer formal freier Wahlen und einer zunächst faszinierenden
orangenen Revolution 2004 ist die Demokratie wieder auf dem Rückzug. 
Fast schon vergessen: Bei der Stichwahl am 7. Februar 2010 zur 
Entscheidung über den künftigen Präsidenten des Landes wurde 
Timoschenko mit 45,47 Prozent ehrenvolle Zweite. Jetzt wird ihr ein 
weiterer Prozess gemacht, Mordvorwurf eingeschlossen. Der Fall ist 
absolut grotesk. Um überhaupt eine Freilassung der 
Oppositionsführerin auf absehbare Zeit erhoffen zu können, muss die 
Inhaftierte ebenso wie ganz Europa auf einen Gnadenakt der 
Gnadenlosen in Kiew setzen. Das Straßburger Urteil kann nicht von 
außen durchgesetzt werden. Dennoch sehen Experten eine Chance, dass 
Timoschenko nach einer Schamfrist von zwei, drei Monaten aus der Haft
entlassen werden könnte. Die Crux: Nur Zugeständnisse an die 
Advokaten der Unfreiheit öffnen das Gefängnistor in Charkow.
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