Was wäre aus Afghanistan geworden, wenn…? Die
sogenannte kontrafaktische Frage wird von renommierten Historikern
wie dem Bielefelder Hans-Ulrich Wehler grundsätzlich abgelehnt. Ganz
anders in der Politik. Zehn Jahre nach dem Beginn des
Afghanistankrieges kennt fast jeder die Antwort auf eine Frage, die
nach Belieben variiert wird. Der Terror vom 11. September 2001 konnte
nicht gestoppt werden, heißt es. Er wuchs in den Folgejahren sogar
noch weiter. Andere messen die neuen Regierenden in Kabul an deren
Ansprüchen und beklagen anhaltendes Unrecht, fehlende demokratische
Reife und wuchernde Korruption. Die wenigsten blicken auf die
mittelalterlichen Zustände bis 2001, als die Taliban Ehebrecher
steinigten, Frauen wie Vieh im Stall hielten und Mädchen einfachste
Bildung vorenthielten. Das ist heute anders. Immerhin gehen 3,2
Millionen Mädchen zur Schule, gibt es Wahlen und das Kapitel
Steinzeit-Islamismus ist vorerst abgehakt. Aber auch damit wird die
Frage nicht beantwortet, ob der Tod von bislang 2753 Soldaten,
darunter 52 Deutsche, den Fortschritt im fernen Land wert war. Für
das historische Urteil, gar die Einschätzung der Standardthese,
wonach den USA in Afghanistan ein zweites Vietnam drohe, ist der
zeitliche Abstand zu gering. Tatsache ist, dass Deutschland ähnlich
entschlossen wie die USA Ende 2001 in den Kampf gegen den Terror am
Hindukusch zog. Manches spricht dafür, dass unsere Freiheit dort bis
heute verteidigt wird. Tatsächlich haben in Berlin sowohl Regierung
als auch Opposition, mit Ausnahme der Linkspartei, immer wieder den
parlamentarischen Auftrag an die Bundeswehr erneuert. Selbst die
Grünen als legitime Erben der großen Friedensbewegung aus den 1980er
Jahren stehen ähnlich wie die nur in Details mäkelnde SPD zur
schwarz-rot-goldenen Fahne von Kabul bis Kundus. Zehn Jahre nach dem
Beginn des Einsatzes hat der Einstieg in den Ausstieg begonnen. In
den nächsten drei Jahren werden deutsche, amerikanische und viele
andere Kampftruppen abgezogen sein. Viel wichtiger ist die Frage, was
kommt. Die USA werden Ihre Militärstützpunkte mit Blick auf Pakistan
auf Dauer behalten wollen, die Europäer die zivile Entwicklung
unterstützen. Letzteres ist über alle Maßen zu begrüßen. Mit Bildung,
Agrarberatung und Förderung lokaler Wirtschaft könnte es gelingen,
die Freiheit und Würde der seit 1980 mehr oder weniger im
Kriegszustand lebenden Menschen zu sichern. Deutschland bleibt also
am Hindukusch, allerdings in Zivil. Wer beurteilen will, ob
Entwicklung gelingt, muss die ganz lange Zeitperspektive wählen.
Immerhin lehren Hans-Ulrich Wehler und andere Größen der Bielefelder
Schule, dass Aufklärung und politische Souveränität Unfreiheit,
Ständestaat und Kaiserreich – jedenfalls in der westlichen Welt –
überwunden haben.
Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261
Weitere Informationen unter:
http://