Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum 3. Oktober

Am 9. November jährt sich der Fall der Berliner
Mauer zum 25. Mal. Von da an bis zum 3. Oktober 2015, dem 25.
Jahrestag der Einheit, haben die Deutschen fast ein Jahr Zeit, über
die Wiedervereinigung nachzudenken. Und das ist gut so. Nur wer ab
und zu zurückblickt, hat den Kopf frei für den Blick nach vorn.

Sicher, der Tag rückt näher, an dem die deutsche Teilung für die
Mehrheit der Bevölkerung Geschichte ist, an die sie sich nicht
persönlich erinnert. Doch beweisen die amtlichen Statistiken, dass es
nach wie vor Unterschiede gibt – bei Lohn und Gehalt, bei der
Vermögensverteilung, der Arbeitslosenrate, im Wahlverhalten. Aber
natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen Ostfriesen und Bayern.
Weitreichender ist darum wohl die Grenze in den Köpfen. Besonders
Ältere stecken teilweise noch voller Urteile und Vorurteile über die
andere Seite.

Solidaritätszuschlag hin, Solidarität etwa bei den großen
Überschwemmungen her: Das Bild vom »Besserwessi« ist 24 Jahre nach
der Einheit nicht verschwunden. Offenbar finden die Menschen in den
fünf »neuen« Bundesländern nach wie vor genug Anlass, die
Westdeutschen für egoistisch zu halten – und für so arrogant, dass
sie sogar glauben, besser zu wissen, wie das Leben in der DDR gewesen
ist, als die, die dort geboren wurden. Und es war doch gar nicht
alles schlecht. Zum Beispiel die Polikliniken. Wahrscheinlich, so
argumentiert man »drüben«, werden sie irgendwann genauso
wertgeschätzt wie die Kinderhorte, von denen es in der DDR viel mehr
gegeben hat als im Westen. Oder das Abitur nach zwölf Jahren. Und
überhaupt, im Westen gehören zwar noch viel mehr der Kirche an. Aber
im Grunde, so die ostdeutsche Sicht, beten die Wessis vor allem das
Geld an.

Nun aber mal langsam! Wenn zum Beispiel in Magdeburg das jährliche
Fest zur Einheit mit einer Shoppingnacht eingeläutet wird, dann ist
das keine Erfindung des Westens. Den anderen sagen, sie seien
kapitalistisch, aber selbst alles abkassieren! Und wenn die
SED-Nachfolgepartei demnächst möglicherweise sogar einen
Ministerpräsidenten stellt, dann in Thüringen und nicht diesseits der
ehemaligen Grenze. Freiheit und Recht standen 1989 auf den Plakaten.
Doch wirklich geschätzt werden die Werte aus westlicher Sicht im
Osten bis heute nicht. Und dann die vielen Rechtsradikalen! Wenn das
Ansehen Deutschlands im Ausland zurückgeht, dann doch wegen der
Ossis!

Selbstverständlich sind diese Vorurteile so falsch wie alle
Pauschalierungen. Aber es hilft, sie auszusprechen. Nur muss man
anschließend miteinander sprechen. Dazu sollte das folgende Jahr oft
genug Anlass geben.

Aus der Todesgrenze wurde ein natürliches grünes Band und eine
Heimat für bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Auch die Grenze in den
Köpfen hat sich verändert. Das Freund-Feind-Schema ist verschwunden.
Doch darf Deutschland da nicht stehen bleiben. Es muss weiter
zusammenwachsen, was zusammengehört.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
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