Auch in seinem zweiten Prozess wurde der
Ex-Milliardär Chodorkowski schuldig gesprochen. Dabei werden die
wahren Machtverhältnisse in Russland enthüllt: Es geht weniger um
Steuerhinterziehung als um den Machterhalt einer herrschsüchtigen
Führungsclique. Der einstige »Oligarch«, vielmehr Multimillionär
Chodorkowski wird bestraft, weil er sich dem System Putin widersetzt
hat: Der autoritäre Führer Putin duldet keine Kritik oder Opposition;
er ist unfähig, mit politisch Andersdenkenden fair und demokratisch
umzugehen. Chodorkowski steht Wladimir Putin im Wege, weil er eigene
politische Vorstellungen verwirklichen wollte. Er hat
Oppositionsparteien unterstützt, Liberale und Kommunisten gefördert,
die korrupte Verquickung von Wirtschaft und Politik kritisiert und
versucht, Russland in eine Parlamentsrepublik zu verwandeln. Als
Chodorkowski mit amerikanischen Ölkonzernen verhandelte und
Ambitionen auf das Präsidentenamt zeigte, griff Putin durch: Die
Energie-Ressourcen sollten wieder in Staatshand gebündelt und die
politische Konkurrenz ausgeschaltet werden. Chodorkowski und sein
Geschäftspartner Platon Lebedjew wurden 2003 wegen
Steuerhinterziehung und Betrugs zu acht Jahren Arbeitslager
verurteilt. Selbst Regierungsmitarbeiter gaben damals zu, dass ein
Exempel statuiert werden sollte. Das System Putin basiert auf
Seilschaften und Abhängigkeiten, die auf den sowjetischen
Geheimdienst zurückgehen. Der autoritäre Führer Putin kontrolliert
die »Oligarchen«, die ihm politisch verpflichtet sind. Die Neureichen
Russlands müssen sich Putins Macht unterwerfen, oder sie werden
inhaftiert oder mundtot gemacht. Freies Unternehmertum wird nur so
lange geduldet, wie es den Herrschenden nicht in die Quere kommt.
Inzwischen hat Wikileaks die Korruption, Willkür, bürokratische
Ineffizienz und Kriminalität in Russland bestätigt, doch das Land
scheint noch nicht verloren: Medwedew hat immerhin öffentlich
eingeräumt, dass »weder der Präsident noch ein anderer Beamter« das
Recht habe, den Fall Chodorkowski zu kommentieren. Staatspräsident
Medwedew geht somit auf Distanz zu Regierungschef Putin, der zuvor
Chodorkowskis erneute Verurteilung im Fernsehen gefordert hatte.
Diese kleinen rechtsstaatlichen Fortschritte unter Medwedew werden im
Westen aufmerksam registriert. Denn Deutschland, die EU und die USA
sind besorgt. Wegen der vielen diplomatischen und wirtschaftlichen
Verflechtungen wünscht man sich ein demokratisches und
rechtsstaatliches Russland. Moskau soll eine konstruktive Rolle im
NATO-Russland-Rat und der UNO spielen und ein zuverlässiger
Energielieferant bleiben. Zugleich kann der Westen die massiven
Demokratiedefizite nicht totschweigen. Der Spagat zwischen
Kooperation und Menschenrechtskritik bleibt eine schwierige Aufgabe
der westlichen Diplomatie.
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