Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum EU-Gipfel

Da sage noch einer, Angela Merkel habe keinen
Mut. Mit ihrem Vorhaben einer europäischen Wirtschaftsregierung ist
die Kanzlerin voll ins Risiko gegangen und hat sich fürs Erste
durchgesetzt. Nebenbei wischte sie einen bösen Vorwurf vom Tisch:
»Madame Non« war gestern. Plötzlich übernimmt Merkel die Führung und
zwingt die Euro-Zone – in enger Abstimmung mit Frankreichs
Staatspräsident Nicolas Sarkozy – auf ihren Kurs. Beschlossen ist
nichts, doch die Richtung ist klar: Beim Sparen, bei
Bildungsabschlüssen, Löhnen und Steuern, sogar beim Rentenalter
sollen sich die EU-Staaten in Zukunft enger abstimmen – und zwar
freiwillig. All das folgt der Erkenntnis, dass eine gemeinsame
Geldpolitik nicht reicht, um Euro-Krisen, wie wir sie im vergangenen
Jahr erleben mussten, zu verhindern. Merkel will nicht weniger als
den Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung beheben – den Verzicht auf
eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die Kanzlerin bietet
Solidarität und verlangt mehr Solidität. Die Gelegenheit ist günstig:
Ohne Deutschland ist eine Aufstockung des Euro-Rettungsschirms ebenso
wenig denkbar wie Erleichterungen für Schuldenstaaten wie
Griechenland oder Irland. Das ist Merkels Faustpfand, deshalb drückt
sie aufs Tempo: Bis Ende März soll der Pakt stehen. Die Skepsis bei
den europäischen Nachbarn jedoch ist ebenso groß wie die der
EU-Kommission und des EU-Parlaments. Letztere wollen nicht umgangen
werden, mancher Regierungschef fürchtet den Verlust
nationalstaatlicher Eigenständigkeit. Kritik am Parforceritt der
Kanzlerin kommt auch aus der Heimat. Während die Gewerkschaften die
Tarifautonomie in Gefahr sehen, monieren Opposition und
Wirtschaftsexperten, dass das Motto »Am deutschen Wesen soll Europa
genesen« eher zur Verschärfung denn zur Lösung der Probleme beitrage.
So habe der Dreiklang aus sinkenden Staatsausgaben, Lohnzurückhaltung
und Exportfixierung in Deutschland überhaupt nur funktioniert, weil
die anderen Euro-Staaten diesen Weg gerade nicht gegangen seien.
Zusätzlich wird es Merkel mit Blick auf eine engere Kooperation in
der Euro-Zone sicher auch wieder mit der Europaskepsis der Deutschen
zu tun bekommen. Kurz: Die Kanzlerin steht vor einer immens
schwierigen Aufgabe. Ihr Erfolg in Brüssel war nur der erste Schritt
auf einem langen Weg. Doch es ist richtig, diesen Weg zu gehen. Es
ist richtig aus nationalstaatlichem Interesse, weil kein Land so sehr
vom europäischen Binnenmarkt profitiert wie Deutschland. Deshalb tun
wir auch gut daran, im Sinne Europas kompromissbereiter zu sein. Und
es ist richtig mit Blick auf den globalen Wettbewerb und Konkurrenten
wie China und Indien, denen wir nur als europäischer Wirtschaftsraum
die Stirn werden bieten können. Will Angela Merkel diesen Weg
erfolgreich gehen, wird sie Europa deutscher und Deutschland
europäischer machen müssen. Welch ein Spagat!

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Andreas Kolesch
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