Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum NSU-Prozess

Der Prozess gegen die Terrorzelle
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in München dürfte noch viele
Monate weitergehen. Obwohl zehn Morde und zwei Bombenanschläge
weitgehend verhandelt sind, wagen Beobachter derzeit keine Prognose,
wann das Urteil gesprochen wird. Es gilt nicht einmal als ausgemacht,
dass Beate Zschäpe die volle Mitverantwortung für die Mordserie
nachgewiesen werden kann. Das härteste Indiz für die Existenz einer
terroristischen Vereinigung ist jene Ceska-83-Pistole, mit der neun
Migranten erschossen wurden. Zudem wurden Uwe Böhnhardt und Uwe
Mundlos in der Nähe von drei Tatorten gesehen. Allerdings: An drei
anderen Tatorten wollen Augenzeugen Täter beobachtet haben, die sie
ganz anders beschreiben. Beide Männer nahmen sich das Leben, als sie
am 4. November 2011 gestellt wurden.

Zschäpe könnte noch am ehesten eine Beteiligung an dem 22-fachen
Mordversuch beim Nagelbombenanschlag 2004 in Köln nachgewiesen
werden. Aber noch hat der Vorsitzende Richter Manfred Götzl nicht
erkennen lassen, ob er Zschäpe als vollwertiges Mitglied der
Terrorzelle einschätzt oder doch als stilles Mäuschen neben zwei
marodierenden Outlaws. Als entlastend könnte sich erweisen, dass die
Wohnung in Zwickau einen entschieden zu niedrigen Wasserverbrauch
aufweist – selbst für eine einzige Person.

Gab es also noch andere Wohnungen, ein noch viel größeres Netzwerk
in der Szene, das den beiden Haupttätern Unterschlupf gar bei anderen
Nazi-Bräuten bot? Die Bundesanwaltschaft hält an den Version
Kleinzelle fest. Opferanwälte und auch Stimmen vor allem aus dem
linken Spektrum sehen ein weit größeres rechtsradikales Netzwerk,
dessen Aufdeckung dem Staat angeblich nicht wichtig ist.

Tatsächlich dürfte auch nach Prozessende das Schattenreich
deutscher Rechtsterroristen immer noch nicht ausgeleuchtet sein. Der
Legendenbildung sind Tür und Tor geöffnet.

Der NSU-Prozess leistet strafrechtlich genau das, was das Gesetz
verlangt. Er liefert aber keine politischen Erklärungen. Er ist auch
nicht eine Form von Wahrheitskommission, die zu einer wie auch immer
gearteten Läuterung führt. Der Prozess wird Fragen offen lassen, weil
Gerichte nicht weiterkommen, wenn Zeugen mauern, lügen und das
Verfahren ad absurdum führen. Der aktuelle Streit um die Zulassung
bestimmter Nebenkläger ist nichts gegen die Frage, wieso die
NSU-Mordserie erst erkannt wurde, als Zschäpe 2011 ihre Wohnung
anzündete und Selbstbezichtigungen in Form zynischer Trickfilmchen
verschickte.

Mehr noch: Die nach 34 Jahren erschütterte Einzeltäterthese zum
Anschlag auf das Münchner Oktoberfest von 1980 eröffnete vor wenigen
Tagen eine ganz andere Dimension. Gibt es eine durchgehende braune
Linie von Altnazis über die Wehrsportgruppe Hoffmann, den Thüringer
Heimatschutz zum NSU und darüber hinaus?

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Westfalen-Blatt
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Andreas Kolesch
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