Der Vorfall ist unstrittig – die DNS-Analyse
beweist den Sexualkontakt zwischen Dominique Strauss-Kahn und dem New
Yorker Zimmermädchen. Hat aber die Frau aus freien Stücken gehandelt,
oder wurde sie gezwungen? Diese einzige wirklich wichtige Frage muss
nun von der US-Justiz geklärt werden. Wer jedoch die amerikanischen
Strafverfolgungsbehörden kennt, darf bezweifeln, dass Polizei,
Staatsanwaltschaft und Richtern eine belastbare Antwort einfällt.
»Belastbar« heißt: im Einklang stehend mit europäischen
Rechtsvorstellungen. Es mag diese eurozentrische Sicht für anmaßend
halten, wer das amerikanische Rechtssystem dem europäischen für
überlegen hält – allein: es ist genau umgekehrt. Der Prüfstein, an
dem sich Recht von Fehlurteil scheidet, die Gretchenfrage also
lautet: Wie hältst du–s mit der Unschuldsvermutung? Hüben wie drüben
stehen sich zwei Strafrechtskulturen diametral gegenüber. In der
europäischen Tradition ist der Angeklagte mit demselben Respekt und
derselben Fairness zu behandeln, wie sie einem Unbescholtenen
gebührt. Das heißt, dass die Justiz auch Fakten zu ermitteln hat, die
zu seinen Gunsten sprechen. In den USA hingegen nimmt man die Schuld
des Angeklagten vorweg. Polizist und Staatsanwalt bleiben untätig,
und so verdampft die hohe Maxime in dubio pro reo, im Zweifel für den
Angeklagten, zu einer hohlen Phrase. Wo der Apparat schlicht keine
Zweifel hegt, weil er eben nichts Entlastendes recherchiert, ist eine
erfolgversprechende Verteidigung Glückssache. Die dem amerikanischen
Strafrecht innewohnende Menschenverachtung erhebt bereits im
Perp-Walk (von perpetrator = Straftäter) ihre hässliche Fratze: Bevor
auch nur ein einziges Wort vor Gericht gesprochen ist, führt die
Polizei den Angeklagten öffentlich vor. Seht her, wir haben den
Übeltäter, signalisiert diese unwürdige Zurschaustellung. New Yorks
Bürgermeister Michael Bloomberg sagte ganz ohne Arg: »Wenn du den
Perp-Walk nicht willst, begeh kein Verbrechen!« Wenn das keine
juristische Vorverurteilung, kein staatlich legitimiertes Vorurteil
ist – was dann? In den USA wird vor Gericht gekämpft. Die Vorstellung
vom Kampf ist Amerikas Bürgern seit der gewaltsamen Landnahme im 18.
und 19. Jahrhundert zur identitätsstiftenden Denkfigur geworden.
US-Strafverfahren sind ritualisierte Aggression, in deren Verlauf dem
Inhaftierten die Last aufgebürdet wird, trotz eingeschränkter
Bewegungsfreiheit (und trotz des meistens arg begrenzten
Finanzspielraums) gegen die Staatsmacht zu kämpfen. Wer sich
angesichts der ungleichen Chancen an das archaische Gottesurteil
erinnert fühlt, zielt nicht weit daneben. Atavismen jedoch
beschädigen die Umgangsformen der Moderne. Es wird kolportiert,
Strauss-Kahn versuche jetzt sein Glück mit Bestechung. Wenn dem so
wäre: Das ist Kampf. Typisch USA.
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