Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Thema Wahlrecht

Was für eine schallende Ohrfeige! Das
Verfassungsgericht lehnt die Wahlrechtsreform der Bundesregierung ab.
Patsch, das hat gesessen. Karlsruhe trifft Berlin mit voller Wucht.
Einstimmig. Und ohne jede Übergangsfrist. Aua, das tut weh.
Deutschland steht ohne gültiges Wahlrecht da, Schwarz-Gelb ist mal
wieder bis auf die Knochen blamiert. Und Karlsruhe bremst zum
wiederholten Mal eine Regierung aus, die ihr Geschäft nicht
beherrscht. Besonders peinlich: Der Richterspruch kam mit einem
solchen Anlauf, dass man sich fragt, wo Union und FDP bei dem Urteil
von 2008 Augen und Ohren hatten. Oder gibt es im Regierungslager gar
eine heimliche Lust am Untergang? Wie auch immer – die juristische
Belehrung gestern war unvermeidlich und geschah mit vollem Recht.
Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bemühte sich denn auch gar nicht
erst, lange um den heißen Brei herumzureden: »Angesichts der
Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sieht der Senat keine Möglichkeit,
den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu
akzeptieren.« Schlimmer geht–s nimmer für Schwarz-Gelb. In höchster
Not ist die Pleiten-, Pech- und Pannenkoalition aus CDU/CSU und FDP
nun erneut auf die Mithilfe der Opposition angewiesen. Entsprechend
kleinlaut boten Regierungsvertreter unmittelbar nach der
Urteilsverkündung SPD und Grünen Gespräche an. Was anderes sollen sie
auch tun? Die Zeit drängt. Zwei Probleme sind zu lösen: das der
Überhangmandate und das des negativen Stimmrechts. Beides ist nicht
einfach, aber auch keineswegs unmöglich. Immerhin waren die
Schwachstellen lange bekannt. 2008 gewährte das Gericht dem
Gesetzgeber eine großzügige Frist von drei Jahren zur Neuregelung.
Verständlich, dass die Richter jetzt mit ihrer Geduld am Ende sind.
Gelingt es Parlament und Regierung nicht, bis Herbst 2013 ein
verfassungsfestes Wahlgesetz zu beschließen, könnte die
Bundestagswahl nicht stattfinden. Es sei denn, Karlsruhe fühlte sich
bemüßigt, ein Wahlrecht zu setzen, um Deutschland nicht in aller Welt
zum Gespött zu machen. Das allerdings wäre der Gipfel der
Peinlichkeit für die deutsche Politik. Ohnehin schieben die Parteien
viel zu oft die Verantwortung an das Verfassungsgericht weiter. Doch
Karlsruhe soll nur der TÜV sein. Als Reparaturbetrieb für die Politik
ist das Verfassungsgericht weder vorgesehen noch geeignet und auch
nicht legitimiert. Entsprechend groß ist nun der Druck auf die
Bundestagsparteien. Regierung und Opposition sind gefordert. Die
gestern abgelehnte Wahlrechtsreform ist ein Lehrstück politischer
Unkultur. Der Richterspruch muss allen Parteien eine Mahnung sein,
Regierungsmacht nicht unbotmäßig zum eigenen Vorteil auszunutzen. Die
demokratische Verfasstheit unserer Republik ist zu wertvoll, um sie
auf dem Altar der Parteiinteressen zu opfern. Beschämend, dass
Karlsruhe die Politik daran immer wieder erinnern muss.

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