Mit ungläubigem Staunen und vornehmer
Zurückhaltung hat der Westen bis dato auf die Revolutionen in Ägypten
und seinen arabischen Nachbarstaaten geschaut. Doch das wird – bei
allem Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker – nicht so
bleiben können. Die gewaltsam unterdrückten Proteste in Algerien und
die neuerliche Flüchtlingswelle tausender Tunesier in Richtung
Italien zwingen auch Europa dazu, Farbe zu bekennen. Die arabische
Welt ist uns näher, als es vielen lieb sein dürfte. Bemerkenswert
bleibt die Entwicklung in Ägypten. Kaum ist Diktator Husni Mubarak
aus dem Amt gejagt, krempeln die Menschen die Ärmel auf: Nach den
Freudenfeiern geht das Volk vielerorts ans Aufräumen. Nach 18 Tagen
Revolution versinnbildlicht das eindrucksvoll, wie es – aller
berechtigten Euphorie zum Trotz – um Ägypten steht: Der Weg zur
Demokratie ist weit, die eigentliche Arbeit noch zu tun und der
Erfolg keineswegs sicher. Für eine freie und pluralistische
Gesellschaft nach unserem Verständnis fehlt vieles, wenn nicht alles.
Es spricht Bände, dass ausgerechnet die Armee den Erfolg der
Revolution sichern soll. Die neuen Machthaber scheinen guten Willens,
wie die Auflösung des Parlaments beweist. Doch die Herausforderung
liegt darin, den Zeitraum zu überbrücken, den es zur Vorbereitung
freier Wahlen bedarf. Dieser Zeitraum darf nicht zu kurz sein, sonst
wird echter Fortschritt unmöglich. Er darf aber auch nicht zu lang
werden, sonst könnten die Menschen die Geduld verlieren. Die Gefahr
wäre groß, dass der bisher so bewundernswert friedliche Protest in
Gewalt umschlägt. Europa muss einen ernsthafteren Beitrag als bisher
leisten, um genau das zu verhindern. Nicht auszudenken, wenn die
Situation in Ägypten und dem umliegenden Raum – ohnehin ein
Pulverfass – eskalieren sollte. Ganz zu schweigen von der Bedrohung,
die Israel daraus erwachsen könnte. Diese arabische Revolution ist
auch eine Herausforderung für die westliche Welt. Europäer und
US-Amerikaner müssen umdenken. Die Frage ist, wie ein neues
Gleichgewicht aussehen soll. Dabei geht es nicht nur um hehre Ziele
wie Humanität, Freiheit und Demokratie, sondern auch um die
Verteilung von Wohlstand und Wachstum. Man muss kein Prophet sein, um
vorherzusagen, dass Ägypten und seine Nachbarn in Zukunft sehr viel
selbstbewusster auftreten werden. Vorbei sind die Zeiten, in denen
der Westen auf die Zusammenarbeit mit den jetzt so gern und vor allem
risikolos gescholtenen Diktatoren setzen konnte, die zumeist
pflegeleichte, ja willfährige Partner waren. Dahin ist die
Selbstverständlichkeit, mit der auch wir wirtschaftlich im Übermaß
von der Stabilität dieser menschenverachtenden Regime profitiert
haben. Europa wird all das akzeptieren müssen. Das ist der Preis für
den Wandel, den wir zu zahlen haben. Sind wir dazu nicht bereit,
sollten wir uns auf Flüchtlingsströme ganz anderen Ausmaßes und
dauerhafte politische Instabilität in diesem Teil der arabischen Welt
einstellen.
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Andreas Kolesch
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