Dass es sich beim Genozid vor 100 Jahren an bis
zu 1,5 Millionen Armeniern um einen Völkermord handelt, daran besteht
für fast alle der 631 Bundestagsabgeordneten kein Zweifel. Aber das
Parlament sollte den Begriff in seiner Erklärung zum Schicksal der
Armenier vermeiden.
Das wollte die Bundesregierung aus diplomatischen, taktischen
Gründen. Gegen diese Bevormundung haben sich die Parlamentarier
gestellt und die Erwähnung des Begriffs »Völkermord« durchgesetzt.
Das ist in Zeiten einer gefühlten Einheitsregierung von Schwarz-Rot
ein gutes demokratisches Zeichen.
Die Türkei wird sich von Deutschland verunglimpft fühlen. Und
einen Streit mit dem Nato-Partner wollten Kanzleramt und Auswärtiges
Amt vermeiden. Ihnen wäre es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
das ein Jahrhundert zurückliegt, fast nicht wert gewesen, die
schwierigen Beziehungen zur Türkei weiter zu belasten.
Geostrategisch ist das Land gerade jetzt von einiger Bedeutung. Im
Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) scheint Präsident Recep
Tayyip Erdogan samt seiner Regierung eingesehen zu haben, dass es
nicht klug war, europäischen Dschihadisten auf dem Weg nach Syrien
und in den Irak freies Geleit zu gewähren – in der zu kurz gedachten
Annahme, der IS wäre eine Art Verbündeter gegen die kurdische PKK.
Auch in der Flüchtlingsfrage will die Türkei ihren Kurs ändern und
hat angekündigt, gegen die Schlepperboote im Hafen der Stadt Mersin
vorgehen zu wollen.
Wiegt Realpolitik schwerer als Moral und historische
Verantwortung? Das Kaiserreich schaute nachweislich weg, als das
Osmanische Reich die Armenier in die Wüste trieb, verrecken ließ und
tötete. Eine deutsche Mitwisserschaft steht außer Frage.
Das heißt aber nicht, dass Berlin die Ereignisse im Osmanischen
Reich von 1915 hätte verhindern können. Man wollte dem Bündnispartner
nicht in den Rücken fallen und nahm den Völkermord hin.
Deutschland und die Türkei haben gemeinsam, Rechtsnachfolger
untergegangener Reiche zu sein. Beide Staaten haben die Pflicht, auch
mit den negativen Seiten ihres historischen Erbes würdig umzugehen.
Da hat die Türkei ganz sicher Nachholbedarf. Aus zwei Gründen erkennt
sie den Genozid an den Armeniern nicht als solchen an: Eine
offizielle Entschuldigung könnte Reparationsforderungen zur Folge
haben, und die für den Völkermord verantwortliche jungtürkische
Bewegung gehört zum nationalen Gründungsmythos wie Mustafa Kemal
Atatürk. Dem könnte man entgegenhalten, dass Erdogans in Teilen
anti-kemalistische Politik die türkische Republik zumindest
traditioneller gemacht hat – und religiöser.
Wer klug ist, der verzichtet in diesen Tagen darauf, mit dem
Völkermord an den Armeniern sein Mütchen an Erdogan zu kühlen.
Umgekehrt wünscht man sich von ihm etwas Gelassenheit.
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Westfalen-Blatt
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Andreas Kolesch
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