Mit der Anklage eines ehemaligen
SS-Unterscharführers aus Lage hat die Debatte jetzt auch die Region
erreicht: Muss man, 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, Männer
im Greisenalter als mutmaßliche Mitverantwortliche für das
industrielle Morden noch vor Gericht stellen? Ja, man muss.
Was deutsche Staatsanwaltschaften jetzt aufarbeiten, haben die
Generationen ihrer Vorgänger fahrlässig, vielleicht sogar vorsätzlich
ignoriert. Der jüngst verstorbene Publizist Ralph Giordano hat es
»die zweite Schuld« genannt, die nach Kriegsende einsetzende
Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld, der Schuld der
Deutschen am verbrecherischen Angriffskrieg, am Völkermord des
Holocaust. Jahrzehntelang konnten sich Scharen von NS-Verbrechern
unbehelligt ihres Daseins erfreuen, waren schon wenige Jahre nach der
NS-Zeit wieder in Amt und Würden, als Juristen, Professoren,
Verwaltungsangestellte, Arbeiter, Unternehmer.
Was die Ankläger von heute noch erreichen können, ist die späte,
viel zu späte Anerkennung der Tatsache: Ja, es waren Verbrechen, ja,
es gibt Täter, wir sind es den Nachfahren der Opfer schuldig, das
Unrecht als Unrecht zu benennen und strafrechtlich zu ahnden. Dabei
ist es völlig unerheblich, ob die greisen Vollstrecker des Führers
tatsächlich hinter Gitter kommen oder eine Strafe aus
gesundheitlichen Gründen ausgesetzt oder von ihr gar abgesehen wird.
Es geht um das Urteil und das späte Eingeständnis, auch als
symbolischer Akt. Ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland,
der auch auf der Maxime »Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz«
fußt, ist sich das schuldig.
Täter berufen sich auf den »Befehlsnotstand«. Man habe so handeln
müssen, andernfalls sei man erschossen worden. Ein Mythos. Bereits in
den Auschwitzprozessen 1963 konnten die Staatsanwälte nachweisen,
dass kein SS-Mann wegen Befehlsverweigerung hingerichtet worden ist.
Das Bundessozialgericht hat 2006 in einem Rentenstreit mit einem
ehemaligen SS-Mann entschieden: »Gegen die Grundsätze der
Menschlichkeit verstößt, wer –arbeitsteilig– an der Vernichtung von
Menschen durch Zwangsarbeit und massenhafte Tötung mitwirkt, indem er
ein KZ bewacht.« Späte Einsicht. »Befehlsnotstand« entlaste nur
denjenigen, der nach besten Kräften alles Zumutbare unternommen habe,
um befohlene Verstöße gegen die Menschlichkeit zu vermeiden – etwa
durch die Beantragung einer Versetzung, was auch in der SS möglich
war.
Es gilt, was Journalist Heribert Prantl vor fünf Jahren anlässlich
des Verfahrens gegen den mittlerweile verstorbenen SS-Mann John
Demjanjuk formuliert hat: »Furchtbar ist nicht, dass heute noch
Prozesse geführt werden. Furchtbar ist, dass der Staat jahrelang so
säumig war.«
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Westfalen-Blatt
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Andreas Kolesch
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