Sechs Wochen nach der Atomkatastrophe von
Fukushima ist kein anderes Land der Welt so von der Energiedebatte
ergriffen wie Deutschland. Auch die Ostermärsche an diesem Wochenende
werden davon ein Zeichen geben. Deutschland ist sprichwörtlich in
Bewegung, und das Tempo ist atemberaubend. Das Ausland bewundert
unsere Entschlossenheit und ist zugleich verwundert. Das muss kein
schlechtes Omen sein. Wer vorangeht, muss aushalten, dass er einsam
unterwegs ist. Gleichwohl trägt der deutsche Diskurs um die
Atomkraft mehr und mehr skurrile Züge. Deshalb kommt es in den
nächsten Wochen entscheidend darauf an, Augenmaß zu bewahren. Mit
Aktionismus ist gerade in der Energiepolitik niemandem gedient.
Nachhaltigkeit ist wichtiger als Geschwindigkeit, Sorgfalt und
Aufrichtigkeit müssen mehr zählen als wohlfeile Beschlüsse. Auch
gilt es, ein Meinungsdiktat zu verhindern. Es ist kein gutes Zeichen,
wenn der Chef eines Energiekonzerns nur noch unter dem Schutz eines
Leibwächters vor seinen Aktionären sprechen kann. Selbstverständlich
muss man sich mit Jürgen Großmann auseinandersetzen dürfen. Doch
haben die Anfeindungen, die der RWE-Chef derzeit erlebt, auch viel
damit zu tun, dass es im politischen Raum kaum einer mehr wagt, so
pointiert Stellung zu beziehen. Vor allem ob der Richtungsschwenks in
CSU und FDP reibt man sich verwundert die Augen und fragt sich, wer
überhaupt jemals in diesem Land der Atomkraft das Wort geredet haben
könnte. Doch bleibt es dem schönen neuen Konsensschein zum Trotz bei
ein paar einfachen und durchaus unangenehmen Wahrheiten: 1.) Der
Ausstieg wird nicht so schnell kommen wie von vielen erhofft.
»Abschalten sofort« bleibt Träumerei. Das Ausstiegsdatum dürfte näher
an 2020 als an 2015 liegen. Es sei denn, man ist bereit, die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und mit ihr unseren
Wohlstand aufs Spiel zu setzen. Auch das kann man für hinnehmbar
halten, nur muss es dann auch klar gesagt werden. 2.) Der Ausstieg
wird viel Geld kosten. Die Energiewende fordert riesige
Investitionen. Bezahlen wird dafür der Bürger – sei es in Form von
Steuern oder sei es in Form von zumindest zeitweilig deutlich höheren
Strompreisen. 3.) Der Ausstieg aus der Atomkraft setzt die
gesamtgesellschaftlichen Kosten der Energiegewinnung nicht auf Null.
Sicher stellen verspargelte Landschaften ein weitaus geringeres
Risiko dar als eine Kernschmelze. Der Protest der Bürger aber richtet
sich stets auch nach den persönlich erlebten Beeinträchtigungen. Hier
bieten Kohlekraftwerke, Windräder, Biogasanlagen und Stromtrassen
reichlich Konfliktstoff. All das zeigt: Der Ausstieg aus der
Kernenergie betrifft uns alle. Die Energiewende hat ihren Wert, doch
sie fordert eben auch ihren Preis. Geduld und langer Atem sind
gefragt. Daran sollten wir jetzt schon denken. Vor allem aber werden
wir sehr lange danach handeln müssen – auch noch in weniger bewegten
Zeiten.
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Andreas Kolesch
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