Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Essener Tafel

Herz oder Kopf – wie entscheiden sich die
SPD-Mitglieder? Stimmen sie für die Große Koalition? Es wäre nicht
mehr als ein nüchternes, ein rationales Ja – ein Ja als kleineres
Übel sozusagen. Oder votieren sie dagegen? Es wäre ein hoch
emotionales Nein, das die tief verletzte Parteiseele streicheln mag,
und doch die SPD den Kopf kosten könnte.

Platzt die Große Koalition auf der Zielgeraden, ist nicht nur die
Fraktionsvorsitzende und designierte Parteichefin Andrea Nahles
bloßgestellt, sondern mit ihr die gesamte Führungsriege der SPD. Und
auch Juso-Chef Kevin Kühnert, der talentierte Anführer der
NoGroKo-Kampagne, hätte ein riesiges Problem. Denn mit welcher
Botschaft wollte er in den kommenden Wahlkampf ziehen?

Bis die Entscheidung feststeht, geht das große Zittern um.
Allerorten wird vor Neuwahlen gewarnt, weil das »nur die AfD stärken
würde«. Eine unbewiesene Behauptung, die noch dazu ein merkwürdiges
Demokratieverständnis offenbart: Hat da etwa jemand Angst vor dem
Wähler? Und wenn ja, besteht diese Angst zurecht?

Womit wir bei der Essener Tafel wären, ihrem Vorsitzenden Jörg
Sartor und der im Dezember vom Vorstand einstimmig getroffenen
Entscheidung, vorerst keine Ausländer mehr anzunehmen. Diese
Entscheidung mag falsch sein, weil sie gegen die Satzung der Tafeln
verstößt und Bedürftigkeit keine Frage der Herkunft ist. Vor allem
aber ist sie ein Hilferuf. Denn Sartor und seine Mitstreiter,
allesamt ehrenamtlich tätig, hatten beobachtet, dass die wachsende
Zahl der Flüchtlinge an den Ausgabestellen vermehrt zu Konflikten
führt. Insbesondere junge männliche Migranten ließen es demnach an
Respekt gegenüber Müttern und älteren Frauen fehlen, so dass diese
lieber wegblieben.

Und wie reagierte die große Politik? Kühl und belehrend. Kanzlerin
Angela Merkel (CDU) nannte die Entscheidung »nicht gut«. Der
SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach attestierte, nun sei »der
Ausländerhass sogar bei den Ärmsten angekommen«. Und die Berliner
Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) twitterte, ihr laufe es »eiskalt
den Rücken herunter«, wenn »Essen nur für Deutsche« ausgegeben werde.

Vor Ort aber hatte sich keiner der drei zuvor ein Bild gemacht.
Und gesprochen hatten sie mit Sartor auch nicht. Von der Tatsache,
dass die Essener Tafel nur eine Entwicklung ausbadet, die nicht sie,
sondern die sie kritisierenden Politiker zu verantworten haben, ganz
zu schweigen. Denn Sozialpolitik ist eine Sache des Staates.
Hingehen, zuhören, miteinander statt übereinander sprechen – sind das
nicht politische Urtugenden? Und was wäre eigentlich gewesen, wenn
die Essener Tafel aus Angst vor einer weiteren Eskalation ihre Arbeit
eingestellt hätte? Soll es am Ende gar besser sein, nicht zu helfen,
als nicht allen zu helfen? Das wäre beschämend. Wie es der ganze Fall
ist, der viel über die Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten
in unserem Land verrät. Und SPD wie Union täten gut daran, sich zu
fragen, ob ihre jüngsten Misserfolge nicht genau hier ihre Ursache
haben.

Dass Sartor und seine Mitstreiter sich darüber hinaus auch noch
Hass-Graffitis gefallen lassen mussten, rundet das ungute Bild nur
ab. »Nazis« und »Fuck Nazis« steht nun an der Tür und auf sechs der
sieben Tafel-Fahrzeuge geschrieben, mit denen die Ehrenamtlichen
durch die Stadt fahren. Es spricht für Sartor, diesen Unsinn erst
einmal ganz bewusst stehen zu lassen, weil er findet: »Das sollen
alle sehen.«

Für unser Land aber spricht das alles leider nicht. Gewiss: In der
Sache muss hart gerungen werden. Und Streit gehört dazu. Ein
Tugend-Rigorismus jedoch, der nur Schwarz oder Weiß, nur Feind oder
Freund, nur »Ausländerhasser« oder »Gutmenschen« kennt, hilft keinem
weiter. Was im September 2015 schon falsch war, ist es im März 2018
noch immer. Wir brauchen dringend eine neue Regierung, aber genauso
dringend ist eine neue politische Kultur vonnöten.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
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