Vielleicht ist einfach zu viel los. Erst
»Stuttgart 21« und dann auch noch der Castor-Transport – man kann
schließlich nicht gegen alles zugleich sein. Auch Protest ist auf
Dauer eine anstrengende Sache. Dennoch ist es erstaunlich, wie
ungerührt die Republik die Gesundheitsreform zur Kenntnis nimmt.
Dabei ist diese Reform von größter Bedeutung – vor allem mit Blick
auf die Zukunft. Nun kann man einwenden, dass die meisten Menschen im
schier undurchdringlichen Interessendickicht von Ärzten,
Krankenkassen und Pharmaherstellern den Überblick verloren haben.
Auch dürfte bei manchem Versicherten angesichts des x-ten
Reformversuchs die Hoffnung auf spürbare Verbesserungen im System
längst geschwunden sein. Vielen ist das Wort Gesundheitsreform bloß
noch ein Synonym für Beitragserhöhungen. Letzteres passiert auch
jetzt wieder. Gravierender aber ist die Tatsache, dass mit der neuen,
einkommensunabhängigen Zusatzprämie künftige Beitragssteigerungen
allein von den Versicherten zu leisten sein werden. Damit ist den
Liberalen die Revolution durch die Hintertür gelungen. Die
Kopfpauschale kommt, und kaum einer merkt–s. Entsprechend stolz hat
der junge, aber ganz und gar unerschrockene Bundesgesundheitsminister
Philipp Rösler (FDP) den Akt der Abstimmung im Bundestag für sich als
Video festgehalten. Wer sich an den Bundestagswahlkampf 2005
erinnert, kann das nur zu gut verstehen. Damals war »Kopfpauschale«
einer der Kampfbegriffe zwischen CDU/CSU und SPD. Beide Seiten
standen sich nirgendwo so unversöhnlich gegenüber wie auf dem Feld
der Gesundheitspolitik. Den Sozialdemokraten gelang es, das
Unionskonzept als »Kopfgeld« zu verunglimpfen. Tausendfach wurde das
falsche Beispiel von der Krankenschwester heruntergebetet, die fortan
so viel für die Krankenversicherung zu zahlen habe wie ihr ungleich
besser bezahlter Chefarzt. Wenig später bildeten Union und SPD die
Große Koalition, es kam zum Formelkompromiss Gesundheitsfonds. Von
der Kopfpauschale war keine Rede mehr. Das ist nun anders. Und das
ist gut, weil sich der richtige Kerngedanke Bahn bricht, dass die
stetig wachsenden Gesundheitskosten von den Lohnkosten entkoppelt
werden müssen. So sehr wir alle uns über den medizinischen
Fortschritt und die steigende Lebenserwartung freuen können, so
wichtig ist es, dass darunter die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft nicht über Gebühr leidet. Eine solche Entwicklung träfe
nämlich mitnichten zuerst die Arbeitgeber, sondern die Arbeitnehmer.
Die Kernbotschaft folglich lautet: Private Vorsorge wird wichtiger.
Noch steht in den Sternen, ob dieses Gesetz einen echten
Systemwechsel markiert. Viel wird davon abhängen, wie Schwarz-Gelb
die Reformidee ausgestaltet. Im Mittelpunkt steht dabei der
Sozialausgleich über Steuern. Die Arbeit für die Bundesregierung hat
gerade erst angefangen. Gesundheitsminister Rösler kann sich also
noch lange nicht sicher sein, ob sein Video wirklich einmal etwas
wert sein wird.
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Westfalen-Blatt
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Andreas Kolesch
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