Das erste im deutschen Reagenzglas gezeugte Baby
wurde 1981 geboren. 30 Jahre später hat sich aus der künstlichen
Befruchtung, der In-Vitro-Fertilisation (IVF), die logische
Folgedebatte ergeben: Nicht nur Paare, die keine Kinder bekommen
können, möchten die Zeugung ins Labor verlegen – auch Paare mit
Behinderungen wollen die dort entstandenen Embryonen in der
Präimplantationsdiagnostik (PID) auf Erbkrankheiten untersuchen,
bevor sie sie einpflanzen lassen. Der Wunsch, ein gesundes Kind zu
bekommen, ist verständlich. Die Diskussion über genetische Auslese
auch? Die Tatsache, dass wir über PID diskutieren, zeigt, dass bei
jeder Grenze, die die Wissenschaft überschreitet, notwendigerweise
die Debatte über die nächste Grenzüberschreitung am Horizont
aufschimmert. Die Gesellschaft hat dabei kein moralisches Gedächtnis:
Argumentiert wird immer ausgehend vom Status quo. Sind wir sicher,
dass wir in 30 Jahren an der nächsten Grenze plötzlich bescheiden
Halt machen? Das schlagkräftigste Argument der PID-Befürworter
lautet, es sei sinnvoller, Embryonen mit einer möglichen Behinderung
auszuschließen, als später einen Fötus abzutreiben. Dieser Spirale
konsequenter Logik kann man sich schwer entziehen, wenn behinderte
Kinder sowieso nicht leben sollen. »So was kann doch heute verhindert
werden«, ist ein Satz, der mancher Mutter mit einem behinderten Kind
schon an den Kopf geworfen wurde. So fürchten PID-Gegner, dass
behindertes Leben damit erst recht als weniger lebenswert
abgestempelt werden könnte. Nicht nur hinter PID, sondern schon
hinter der künstlichen Befruchtung steht ein viel weiterreichenderes
Problem der modernen Gesellschaft: der Wunsch, das eigene – und in
diesem Fall das fremde – Leben zu kontrollieren. Künstliche
Befruchtung, ob mit oder ohne PID, suggeriert die Plan- und
Machbarkeit von Leben und Tod. Aber ist das vermeintlich Negative,
nämlich Kinderlosigkeit und Behinderung, tatsächlich immer unbedingt
negativ, oder kann aus Einschränkungen nicht auch Gutes entstehen?
Verena Bentele ist ein Beispiel, wie ein Mensch an Herausforderungen
wachsen und zum Vorbild werden kann. Indem die Fortpflanzung aus den
Schlafzimmern in die Labore geholt wurde, ist sie auch ein Geldmarkt
geworden. In einundderselben Klinik werden Embryonen für 400 Euro
abgetrieben und ein Zimmer weiter für 4000 Euro im Reagenzglas
gezüchtet und eingepflanzt. Diese Tötungs- und Gebärmaschinerie
kostet jährlich 300 Millionen Euro, während in Entwicklungsländern
pro Jahr Millionen Kinder an Unterernährung sterben. Ist es nicht
notwendiger, statt über die PID über die Vereinfachung von Adoptionen
zu sprechen? Es ist schade, wenn auch wenig überraschend, dass
dieser Gedanke in einer konsumgesteuerten und egozentrischen
Gesellschaft, in der alle individuellen Wünsche jetzt und gleich
erfüllt werden müssen, in den Hintergrund gedrängt wurde. Wer A sagt,
muss nicht B sagen. Manchmal merkt man erst an der neuen Grenze, dass
man schon zu weit gegangen ist.
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Andreas Kolesch
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