Beginnen wir das Wochenende mit einem
Konjunktiv: Womöglich würde es der SPD in der Oppositionsrolle
tatsächlich leichter fallen, sich zu regenerieren. Frei von
Regierungsverantwortung, frei von der Pflicht zu Kompromissen – nur
der Parteiseele verpflichtet. Klingt gut, bloß: Politik findet nicht
im Konjunktiv statt. Politik beginnt mit dem Betrachten der
Wirklichkeit.
Diese Wirklichkeit sieht für die SPD düster aus. Blickt man auf
den Parteitag in Bonn, kann man zu dem Schluss kommen, dass den
Sozialdemokraten nur die Wahl zwischen Pest und Cholera bleibt. Das
Dilemma ist selbst verschuldet. Und einen Königsweg, der unbeschadet
herausführt, gibt es nicht.
Verweigern sich die Genossen einer Regierungsbildung mit der
CDU/CSU, mag das weiten Teilen der Partei gefallen. Bloß: Was sagt
man den zehn Millionen Menschen, die die SPD gewählt haben, damit
diese sozialdemokratische Programmatik in praktische Politik umsetzt?
Und vor allem: Was wollte man den mehr als 60 Millionen
Wahlberechtigten sagen, sollte es in Folge der Absage an eine Große
Koalition noch im Frühjahr Neuwahlen geben? Wie wär–s mit diesem
Slogan: »Für eine selbstzufriedene Opposition: SPD wählen!« Die
Nervosität der Parteispitze ist riesig. Eine Prognose traut sich kaum
jemand, zu unklar ist die Lage. Für Parteichef Martin Schulz geht es
um sein politisches Überleben. Verweigern ihm die Delegierten die
Gefolgschaft, wird er zurücktreten. Doch damit nicht genug: Die
gesamte Führung wäre bloßgestellt – die SPD stünde vor einem
Erdbeben. Die Gefahr ist groß, dass die SPD Selbstmord aus Angst vor
dem Tod begeht. Aber sie ist real.
Erinnern Sie sich noch an den Jubel der Genossen im Berliner
Willy-Brandt-Haus, als der gerade krachend gescheiterte
Kanzlerkandidat Schulz am 24. September schon kurz nach Schließung
der Wahllokale und ohne jede Not den Gang in die Opposition
ankündigte? Diese surreale Szene, in der eine Partei die größte
Niederlage ihrer Nachkriegsgeschichte frenetisch feierte, gibt eine
Ahnung davon, wie groß die Sehnsucht der SPD nach der reinen Lehre
und wie gigantisch ihre Angst vor dem nächsten Bündnis mit der
CDU/CSU unter einer Bundeskanzlerin Angela Merkel ist. Dabei ist
weder Angela Merkel noch der Koalitionspartner CDU/CSU das größte
Problem der SPD. Nein, das größte Problem ist die Partei selbst.
Die SPD ist im Agenda-2010-Trauma gefangen. Ihre Selbstzweifel
sind chronisch, der Hang zur Selbstzerstörung riesig. Die Partei
findet einfach keinen Frieden mit der Ära Schröder. Diese
Identitätskrise ist es, die den Sozialdemokraten den Weg in die
Zukunft verstellt. Seit 2005 hat die SPD fünf Vorsitzende
verschlissen. Nun ist sie drauf und dran, den sechsten zu
demontieren, der ihr noch vor wenigen Monaten der Heilsbringer zu
sein schien.
Vielleicht versucht–s die Partei nun zur Abwechslung mal mit
weniger Emotionalität und mehr Nüchternheit. Das lausige
20-Prozent-Ergebnis aus dem Herbst lag ja gerade nicht an einer
bärenstarken Angela Merkel und einer kraftstrotzenden CDU/CSU. Nein,
verloren hat die SPD ihre Wähler an andere, auch an die AfD. Und das
hatte vor allem zwei Gründe: Die Sozialdemokraten konnten weder das
alles überragende Thema innere Sicherheit glaubhaft besetzen, noch
waren sie in der Lage, ihren Dauerbrenner »soziale Gerechtigkeit«
richtig auszubuchstabieren.
Die SPD braucht in der Tat eine Erneuerung. Aber wo steht
geschrieben, dass diese Erneuerung nur in der Opposition möglich ist?
Und dass sie dort automatisch gelingt? Denn dann hätte die SPD ja
bereits 2013 wieder auf Augenhöhe mit der Union liegen müssen. So
bitter es für die Genossen klingen mag: An diesem Sonntag kann die
SPD ihre Lage nicht verbessern, aber sie kann sie erheblich
verschlechtern. Und noch dazu das Land lähmen.
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Andreas Kolesch
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