Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Türkei

Die Lage ist auch schon vor der Bombendrohung in
Gaggenau ziemlich explosiv gewesen. In dieser Situation sollte man
von verantwortlichen Politikern erwarten, dass sie nicht noch Öl ins
Feuer gießen. Doch solche verantwortlichen Politiker gibt es in der
Regierung der Türkei nicht. Ob Justizminister, Wirtschaftsminister,
Außenminister oder Präsident Erdogan selbst: Nachdem sie die
Meinungsfreiheit im eigenen Land weitgehend abgeschafft haben, tragen
sie den Konflikt nun nach Deutschland. Die Provokationen sind
gewollt. Erdogan muss die Anhänger angesichts einer durchaus
möglichen Niederlage beim Verfassungsreferendum hinter sich
versammeln. Am Ende könnten die in Deutschland lebenden türkischen
Staatsbürger das Zünglein an der Waage sein. So nebenbei ist die
Mobilisierung gegen einen äußeren Feind stets auch ein gutes Mittel,
um über das Versagen im eigenen Land bis hin zum immer deutlicher
werdenden Abschwung der türkischen Wirtschaft hinwegzutäuschen.
Inhaltlich braucht man sich mit den Vorwürfen nicht wirklich
auseinanderzusetzen. Es ist lächerlich, dass der Vertreter einer
Regierung, die deutschen Abgeordneten den Besuch deutscher Soldaten
auf ihrem Stützpunkt in der Türkei untersagt hat, jetzt von
»Unhöflichkeit« spricht. Und dass er dann wegen des gleichen
Sachverhalts sogar das Wort »faschistoid« in den Mund nimmt, ist so
abenteuerlich, dass es einem die Stimme verschlägt. Ein anderer als
Bekir Bozdag, der sogenannte Justizminister der Türkei, würde vor
Scham so rot anlaufen, dass die türkische Fahne daneben blass wirken
würde. Wenn etwas als faschistoid bezeichnet werden muss, dann ist es
der Verhaftungsterror des Regimes in Ankara. Es gibt viele gute
Gründe, den Feinden der Demokratie in Deutschland keine Bühne zu
geben. Doch indem Kundgebungen der AKP verboten werden, erhalten ihre
Repräsentanten die Chance, sich gegenüber den eigenen Landsleuten als
Märtyrer zu stilisieren. Besser wäre es, sie vor einigen tausend
Zuhörern reden zu lassen. Und ihnen gleichzeitig zu zeigen, wie
gelebte Demokratie funktioniert – nämlich mit einer mächtigen
türkisch-kurdisch-deutschen Gegendemonstration. Derzeit sind die
Gegner Erdogans in der Defensive. Sie wissen, dass sie bespitzelt
werden. Und sie ahnen, was ihnen und ihren Verwandten in der Türkei
droht. Trotzdem haben sich nicht wenige zuletzt an den Mahnwachen und
Demonstrationen gegen die Verhaftung von Deniz Yücel und anderer
Journalisten beteiligt. Es wird Zeit, dass sie ihren Rücken noch
breiter machen. 100000, 200000, die hier für die Demokratie in der
Türkei auf die Straße gehen – das wäre ein Ausrufezeichen, das seine
Wirkung nicht verfehlte. Nicht möglich? Manchmal muss man erst
träumen, um die Wirklichkeit zu verändern.

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Andreas Kolesch
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