Europa zeigt sich konsterniert und schockiert.
Niemand hat den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan für
einen lupenreinen Demokraten gehalten. Doch die Art, wie er sich nun
als Rächer an seinen Gegnern aufspielt, lässt wenig Zweifel daran,
dass die Türkei nicht länger als gleichberechtigter Partner gesehen
werden kann, den die EU auch noch mit kleinen und großen Geschenken
wie der Visa-Freiheit oder gar einer Beitrittsperspektive adelt.
Dennoch sind die Forderungen nach einem einseitigen Aussetzen des
Flüchtlingsdeals oder anderer Gesprächsrunden mit Ankara vorschnell,
weil sich eine alte Frage neu stellt: Soll man mit autokratischen
Herrschern reden oder soll man sie konsequent ausgrenzen? Sicher
ist, dass die EU nicht so weitermachen kann wie bisher.
Der Versuch Erdogans, den niedergeschlagenen Aufstand von unten
mit einer Art Putsch von oben zu beantworten, darf nicht ohne Folgen
bleiben. Die EU wird daraus Konsequenzen ziehen müssen. Sonst
entlarvt sie sich selbst als unglaubwürdig. Ein augenfälliges Zeichen
wäre das Aussetzen der Gespräche über eine – ohnehin aussichtslose –
Vollmitgliedschaft. Am Runden Tisch in Brüssel über die Anerkennung
der europäischen Standards im Rechts- und Justizwesen zu verhandeln,
während am Bosporus Politik mit allen Anzeichen einer Diktatur
gemacht werden, verbietet sich. Auch die Gespräche über die
ursprünglich für Oktober geplante Visa-Liberalisierung sind obsolet.
Zu den Konditionen für dieses Zugeständnis gehört eine Abkehr vom
umstrittenen Anti-Terror-Gesetz, auf das Erdogan sich gerade für die
Säuberung seines Landes stützt.
Aber dabei darf es nicht bleiben. Die Türkei als sicheren
Drittstaat anzuerkennen, ist blanker Hohn. Denn bereits bei der
Vereinbarung über die Rückführung der Flüchtlinge im März hatte es
genügend Belege und Kritik im Kreis der Staats- und Regierungschefs
gegeben, weil in Erdogans Reich grundlegende Menschenrechte mit Füßen
getreten werden. Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Schutz von
Minderheiten – das waren und sind Fremdworte am Bosporus. Erdogan
muss deutlich zu spüren bekommen, dass die Union nicht bereit ist,
ihre Grundsätze und Werte um jeden Preis zu opfern. Mit eben dieser
Formulierung ist die EU vor einigen Monaten in die Verhandlungen
gegangen. Nun hat die Union deutlich zu machen, dass ihre damaligen
Versprechen, sich nicht von Erdogan erpressen zu lassen, gelten.
Die Furcht vor einer neuen Flüchtlingswelle aus der Ägäis scheint
dabei sogar unbegründet. Denn in den vergangenen Monaten hat Ankara
keine 800 Migranten zurückgenommen. Für das Versiegen des
Flüchtlingsstroms gibt es andere Gründe. Erdogans Mittel sind da
durchaus begrenzt.
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Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
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