Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Weihnachtsansprache von Christian Wulff

Der Start war holprig, die Er- wartungshaltung
gering. Doch überraschend schnell hat sich Christian Wulff als
Bundespräsident Ansehen erarbeitet. Selbst Kritiker bescheinigen dem
51-Jährigen, dass er seine Sache gut macht. Der ungeliebte Kandidat
schickt sich an, ein geachteter Amtsinhaber zu werden. In einer
aktuellen Emnid-Umfrage halten 57 Prozent der Befragten Wulff für ein
gutes Staatsoberhaupt. Nur 18 Prozent finden seine Arbeit schlecht.
Auch Ehefrau Bettina kommt an: Für 58 Prozent der Befragten ist sie
eine gute First Lady. Mit seiner Weihnachtsansprache ist Wulff die
zweite positive Überraschung in seiner gerade einmal sechs Monate
währenden Amtszeit gelungen. Zum Tag der Deutschen Einheit war es das
Thema Integration und der viel diskutierte Satz »Der Islam gehört
inzwischen auch zu Deutschland«, dem er nur wenig später in feiner
Dialektik den Satz »Das Christentum gehört zur Türkei« folgen ließ.
Dieses Mal sorgte vor allem Wulffs Auftritt für Aufsehen. Im Stehen
und vor 200 geladenen Gästen – so hatte in den vergangenen 40 Jahren
noch kein Bundespräsident an Weihnachten zu seinen Landsleuten
gesprochen. Zweifellos eine Inszenierung – aber eine, die ankam, wenn
man die Zahlen zugrunde legt. 6,49 Millionen Menschen und damit mehr
als bei jeder anderen Weihnachtsansprache in den vergangenen zehn
Jahren schauten zu. Eine Inszenierung, die mit der Einblendung
seiner Frau und der Kinder Leander und Linus nicht weit entfernt zu
sein scheint von den Guttenbergs. Doch der Vergleich verbietet sich,
denn anders als ein Minister hat der Bundespräsident qua Verfassung
nur das Wort und die Geste. Er ist also gleichsam zur Inszenierung
gezwungen, ihm ist sie erlaubt. Erst recht, wenn dies der guten Sache
dient, wenn sie den Wert des Ehrenamtes herausstellt und den
Millionen Menschen, die sich unentgeltlich für das Gemeinwohl
engagieren, ein Gesicht gibt. Inhaltlich nahm Wulff den Faden vom 3.
Oktober geschickt auf. Offensichtlich will er das Thema Integration
zum Leitmotiv seiner Präsidentschaft machen. Das erklärt auch die
Auswahl der 200 Ehrenamtlichen, unter denen viele mit ausländischen
Wurzeln waren. Wer Wulffs Worten folgte, merkte schnell, dass der
Gedanke der Integration untrennbar mit dem Gedanken des gegenseitigen
Respekts verbunden ist. »Respekt, Herr Wulff, Respekt!« könnte man in
Anspielung auf diese Ansprache auch in Richtung des Bundespräsidenten
sagen. Als Staatsoberhaupt hat sich Wulff bislang stets an die Seite
der Bundesbürger gestellt, ohne sich jedoch mit ihnen gegen die
Politik zu verbünden. Gelingt es ihm, diesen Weg fortzusetzen, könnte
das Amt des Bundespräsidenten eine neue Würde erlangen. Eine Würde,
die unserem Land und der politischen Kultur in unserem Land sehr gut
täte.

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