Westfalenpost: Harald Ries zur Kritik an Angela Merkel: Die Flüchtlinge müssen Chefsache werden

Sicher hätte die Bundeskanzlerin wie ihr Vize
persönlich in Heidenau auftauchen können. Sie hätte früher öffentlich
äußern können, für wie abstoßend und beschämend sie die Vorgänge in
Sachsen hält. Sie hätte schon vorher irgendwo eine
Flüchtlingsunterkunft besuchen und Solidarität zeigen können. Sie
hätte eine Rede halten können, in der sie das Land darauf einstimmt,
was es bedeutet, wenn dieses Jahr 800 000 Menschen bei uns
Zuflucht suchen wollen.

Doch die großen Gesten, die emotionalen Auftritte, die
symbolischen Inszenierungen sind eben nicht der Stil von Angela
Merkel. Dafür ist sie oft kritisiert worden, von Journalisten,
anderen Parteien und jetzt eben auch auf Twitter. Das genießt sie
nicht, aber sie hat sich daran gewöhnt. Sie kümmert sich lieber im
Hintergrund um die Suche nach Lösungen. Und diese pragmatische
Herangehensweise kommt ganz offenbar an bei den Wählern, auch weil
alles, was nicht funktioniert, ihren Ministern angelastet wird und
nicht der Chefin.

Das Flüchtlingsthema ist für diese Taktik mittlerweile jedoch zu
groß geworden. Hier hat die Kanzlerin selbst dafür zu sorgen, dass
geliefert wird. Auf vielen Schauplätzen: Die Behörden müssen
schneller und koordinierter arbeiten, die Polizei könnte angesichts
der vielen Brandanschläge auf Unterkünfte auch mal ein paar Täter
fassen, die Kommunen brauchen finanzielle Unterstützung. Dazu ist
eine gerechtere Aufteilung in der EU nötig, direkte Hilfe in den
Ankunfts- und Transitländern sowie die Einhaltung humanitärer
Mindeststandards. Europa braucht offene Grenzen und darf nicht
zurückfallen in die Zeit der Mauern und Zäune. Das sind große
Aufgaben. Sie lassen sich auch ohne große Worte erfüllen. Aber es
wird dringend Zeit, sie anzugehen.

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