„Insolvenz-Studie 2015“: Deutsches Insolvenzrecht auf gutem Weg, international aber nicht voll wettbewerbsfähig

Sanierungs- und Insolvenzexperten stellen dem
deutschen Insolvenzrecht drei Jahre nach der Reform ein überwiegend
gutes Zeugnis aus. Einschätzungen ausländischer Experten fallen
kritischer aus, wie die aktuelle „Insolvenz-Studie 2015“ der
Wirtschaftskanzlei Noerr und der Unternehmensberatung McKinsey &
Company zeigt.

Wie gut kommt das neue Insolvenzrecht in der Praxis an? Um dies
herauszufinden, haben die Wirtschaftskanzlei Noerr und die
Unternehmensberatung McKinsey & Company Sanierungs- und
Insolvenzexperten – darunter Anwälte, Richter, Insolvenzverwalter,
Gläubiger und Investoren – befragt. In die Analyse flossen die
Antworten von 220 Experten ein. Hintergrund: Vor drei Jahren wurde
das deutsche Insolvenzrecht durch das „Gesetz zur Erleichterung der
Sanierung von Unternehmen (ESUG)“ modernisiert. Ziel des Gesetzgebers
war es, die Restrukturierungschancen insolvenzbedrohter Unternehmen
zu verbessern sowie die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen
Insolvenzrechts gegenüber ausländischen Rechtsordnungen zu erhöhen.
Denn gerade bei internationalen Insolvenzfällen haben Unternehmen
unter bestimmten Voraussetzungen die Wahl, in welchem Land sie ihren
Fall juristisch ansiedeln. Die Kernergebnisse der Analyse von
McKinsey und Noerr:

– Über 90 Prozent der Befragten bestätigen: Die Reform hat das
deutsche Sanierungsrecht attraktiver gemacht. 39 Prozent aller
Befragten würden es anderen Rechtsformen vorziehen. Bei
ausländischen Befragten liegen allerdings englisches und
US-Recht deutlich vorn.
– Als Pluspunkte der Änderungen sehen die Experten: eine hohe
Planbarkeit, die verbesserten Einflussmöglichkeiten für
Gläubiger, eine zügige Sanierung unter dem Schutzschirm und das
Insolvenzausfallgeld.
– Im Vergleich mit ausländischen Rechtsordnungen wird bemängelt:
ein fehlendes Konzerninsolvenzrecht, ein sanierungsfeindliches
Anfechtungsrecht sowie die Nichtberücksichtigung eines
vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens, das eine Begrenzung auf
einzelne Gläubigergruppen erlauben würde.
– 84 Prozent der ausländischen und insgesamt 47 Prozent aller
Befragten wünschen sich außerdem Englisch als zusätzliche
Gerichtssprache.
– Wie die Analyse weiter zeigt, geht ein Drittel der beantragten
Eigenverwaltungen in das Regelverfahren über. Als größten
Risikofaktor für Verfahren in Eigenverwaltung sehen die
befragten Experten mangelnde Kompetenz des Managements.

Die Ergebnisse im Einzelnen:

Ein Großteil aller Befragten – insgesamt 39 Prozent – sieht das
reformierte deutsche Insolvenzrecht auf Augenhöhe sowohl mit dem
US-amerikanischen als auch mit dem britischen Recht. Für 37 Prozent
der Befragten ist eine gute Planbarkeit des Verfahrens – mit Abstand
– am wichtigsten; allerdings nur 27 Prozent bestätigen, dass das
deutsche Insolvenzrecht dieses wesentliche Auswahlkriterium erfüllt.

Kritischer fällt das Urteil der befragten ausländischen Experten
aus: Nur sechs Prozent bevorzugen die deutsche Regelung, während eine
deutliche Mehrheit von 74 Prozent zu den angelsächsischen
Rechtsordnungen tendiert.

„Das Instrumentarium des deutschen Insolvenzrechts ist dabei nicht
nur nach Meinung der ausländischen Experten nicht differenziert
genug“, sagt Noerr-Partner Dr. Thomas Hoffmann, Co-Leiter der
Praxisgruppe Restrukturierung und Insolvenz. Als nachteilig bewerten
viele Befragten ein derzeit noch fehlendes Konzerninsolvenzrecht (71
Prozent), die Sanierungsfeindlichkeit des deutschen Anfechtungsrechts
(70 Prozent) sowie ein fehlendes vorinsolvenzliches
Sanierungsverfahren, das eine Begrenzung auf einzelne
Gläubigergruppen erlaubt (54 Prozent). „Dass eine Restrukturierung
gegen den Willen einzelner Gläubiger in Deutschland nur in einem
vollen Insolvenzverfahren möglich ist, wird als echtes Hemmnis
gewertet“, betont Hoffmann.

Für McKinsey-Restrukturierungspartner Klaus Kremers steht fest,
dass die Flucht in den ausländischen Rechtsrahmen noch nicht gebannt
ist: „Da die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland seit
2010 zurückgeht, steht der Lackmustest einer großen Pleitewelle noch
aus.“ Handlungsbedarf sieht Kremers aber schon jetzt: „Gerade bei
komplexen finanziellen Restrukturierungen wird das Scheme of
Arrangement immer wieder herangezogen, zum Beispiel bei der Sanierung
des Parkraumbewirtschafters Apcoa. Der Gesetzgeber würde Druck vom
Kessel nehmen, wenn er die Restrukturierung nur mit einzelnen
Gläubigergruppen ermöglichen würde.“

Insgesamt stellt die Umfrage jedoch eine hohe Zufriedenheit mit
dem neuen Insolvenzrecht fest. 92 Prozent der Befragten stimmen der
Aussage zu, das ESUG habe das deutsche Sanierungsrecht attraktiver
gemacht. Zwei Drittel nehmen die Sanierung im Schutzschirm- und
anschließenden Insolvenzverfahren als zügig wahr. Nach Beobachtung
von 80 Prozent der Befragten sind die Verfahren innerhalb eines
angemessenen Zeitraums von durchschnittlich sieben bis zwölf Monaten
abgeschlossen.

Neben der guten Planbarkeit der Verfahren schätzen die Experten
insbesondere die verbesserten Einflussmöglichkeiten der Gläubiger. So
stimmen 81 Prozent der Aussage zu, die Gesellschafter würden durch
die im Insolvenzplan möglichen Eingriffe – etwa durch einen Debt
Equity Swap – nicht zu sehr benachteiligt. 83 Prozent der Befragten
sagen, die Bereitschaft der Gläubiger, eine Sanierung zu
unterstützen, habe sich durch die Mitwirkungsmöglichkeiten im
Gläubigerausschuss erhöht. Kremers: „Dazu passt, dass 82 Prozent
beobachtet haben, dass die Gläubigerausschüsse zunehmend
professioneller agieren – das deckt sich mit unseren Erfahrungen.“ 62
Prozent der Befragten befürworten einen weiteren Ausbau der Rechte
des vorläufigen Gläubigerausschusses.

Die Verbesserungen des ESUG gehen allerdings einher mit einer
erhöhten Komplexität der Verfahren (80 Prozent sehen das so) und
höheren Kosten (63 Prozent).

Ein Drittel der Eigenverwaltungen geht in Regelinsolvenz über Für
die Studie haben die Noerr- und McKinsey-Experten zudem die
beantragten Eigenverwaltungen im Zeitraum zwischen März 2012 und Ende
April 2015 analysiert. Von den insgesamt 867 beantragten
Eigenverwaltungen wurden im Laufe des Verfahrens 33 Prozent in die
Regelinsolvenz übergeleitet. Hauptgrund dafür ist nach Auffassung der
Befragten mangelnde Kompetenz des Managements in der Eigenverwaltung
(22 Prozent). Im Übrigen sehen die Experten die gesetzlich regelbaren
Kriterien für Verfahren in Eigenverwaltung als weitgehend erfüllt.

Die Umfrage bestätigt, dass das deutsche Sanierungsrecht auf einem
guten Weg ist. Um internationale Gläubiger und Investoren von dessen
Vorteilen zu überzeugen, sind jedoch weitere Maßnahmen wünschenswert,
insbesondere ein isoliertes vorinsolvenzliches
Gläubigergruppenverfahren.

Der Gesetzgeber hat angekündigt, die Neuregelungen nach fünf
Jahren zu evaluieren und könnte somit in zwei Jahren gleich an einer
weiteren Stellschraube drehen, befindet Thomas Hoffmann. 84 Prozent
der befragten ausländischen Experten und 41 der Befragten in
Deutschland befürworten die Einführung von Englisch als zusätzliche
Gerichtssprache in deutschen Insolvenzverfahren mit einer großen
internationalen Gläubigerschaft.

Hintergrund

Über Noerr:

Noerr ist eine der führenden europäischen Wirtschaftskanzleien mit
über 500 Professionals in Deutschland, Europa und den USA. Mit
Lösungen für komplexe und anspruchsvolle rechtliche Fragestellungen
schafft Noerr einen echten Mehrwert für Mandanten. Das Besondere an
Noerr ist die Verbindung einer breiten fachlichen Exzellenz mit
innovativem Denken, internationaler Erfahrung und Industrieexpertise.
Zusammen mit den Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und
Unternehmensberatern entwickeln die Anwälte der Kanzlei zudem
nachhaltige und wertschaffende Lösungen für Finanzierung und
Management.

www.noerr.com

Über McKinsey & Company:

McKinsey ist die in Deutschland und weltweit führende
Unternehmensberatung für das Topmanagement. In Deutschland und
Österreich ist McKinsey mit Büros an den Standorten Berlin,
Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München, Stuttgart und
Wien aktiv, weltweit mit über 100 Büros in mehr als 60 Ländern. In
der rasch wachsenden RTS-Practice ist die Restrukturierungs- und
Sanierungsexpertise der Beratung gebündelt.

www.mckinsey.de

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