5 Jahre AMNOG: Das Bermuda-Dreieck der Arzneimittelversorgung / Barmer GEK mit neuen Forderungen

Die Arzneimittelversorgung könnte sich
verschlechtern – davor warnt Gesundheitsökonom Professor Dieter
Cassel, Universität Duisburg-Essen. Im Interview mit Pharma Fakten
zieht er Bilanz nach fünf Jahren AMNOG. Seine Ideen stehen im krassen
Kontrast zu den Reformvorschlägen der Gesetzlichen
Krankenversicherungen. Die Barmer GEK hatte im Rahmen des
Arzneimittelreports 2015 heute in Berlin unter anderem eine
Schnellbewertung neuer Medikamente bei Markteintritt gefordert –
dabei steht die bestehende frühe Nutzenbewertung bereits stark in der
Kritik.

Seit Einführung des Gesetzes zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes (AMNOG) vor fünf Jahren werden mehr Medikamente
vom Markt genommen als jemals zuvor: Waren vor Einführung des
Gesetzes 95 Prozent der international zugelassenen Präparate in
Deutschland verfügbar, sind es seit AMNOG noch 77 Prozent. Darauf
macht Professor Dieter Cassel, Gesundheitsökonom an der Universität
Duisburg-Essen, im Interview mit dem Branchendienst Pharma Fakten
(http://bit.ly/1M0z8E8) aufmerksam. Zudem haben die Unternehmen „fast
jedes fünfte bereits eingeführte Medikament als Reaktion auf
enttäuschende Nutzenbewertungen und unakzeptable Erstattungsbeträge
am unteren Ende der europäischen Preisskala wieder vom Markt
genommen.“ Cassel führt das auf eine verfehlte Regelungsstruktur des
Gesetzes zurück: Weil Nutzenbewertung und Preisverhandlungen nicht
hinreichend und sachgerecht geregelt seien, habe der Gesetzgeber
zugelassen, „dass ein durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA)
und den GKV-Spitzenverband (GKV-SV) verkörpertes Übergewicht der
Nachfrageseite entstanden ist und in allen Phasen des
AMNOG-Prozesses, vor allem aber bei der Preisfindung, auch
ausgespielt wird“, sagt Cassel.

Seit 2011 regelt in Deutschland das AMNOG den Zugang neuer
Arzneimittel. Damit verbunden ist eine Nutzenbewertung, die den
Zusatznutzen eines neuen Präparates im Vergleich zu einer
„zweckmäßigen Vergleichstherapie“ feststellt. Auf die Nutzenbewertung
folgen Preisverhandlungen zwischen dem Unternehmen und dem GKV-SV.
Die Reaktion auf das AMNOG ist zwiegespalten: Aus Sicht der
Krankenkassen ist das Gesetz grundsätzlich ein Erfolg; die
pharmazeutische Industrie hingegen sieht dringenden Reformbedarf. Bis
heute (Stand: November 2015) wurden rund 150 Verfahren durchgeführt.

Ein Mangel an Innovationskraft der Industrie sieht Cassel nicht –
und das obwohl über 40 Prozent der Präparate ohne einen attestierten
Zusatznutzen aus dem Verfahren kommen. Denn: „Bislang sind 90 Prozent
der Wirkstoffe, denen der G-BA keinen Zusatznutzen testiert hat, gar
nicht erst bewertet worden; sie sind vielmehr wegen formaler Mängel –
wie fehlende Dossiers oder Daten, abweichende Vergleichstherapien
oder unvollständige Nachweise – so kategorisiert worden. Falsch
negative Nutzenbewertungen sind dabei also nicht ausgeschlossen.“
Damit steigt das Risiko, dass Präparate keinen Zusatznutzen
zugewiesen bekommen und deshalb nicht verordnet werden, obwohl sie im
Alltag über einen Patientennutzen verfügen.

Dass das AMNOG aus seiner Sicht immer mehr zu einer
Versorgungshürde wird, macht Cassel auch daran fest, dass selbst
Produkte mit einem Zusatznutzen oft zögerlich verordnet werden. Das
AMNOG sorge da wenig für Klarheit, findet der Gesundheitsökonom: „Die
Ärzte können in der Praxis noch zu wenig mit der subtilen Bewertung
des Zusatznutzens und seiner Einteilung in fünf Kategorien beim
Ausmaß und drei Stufen bei der Wahrscheinlichkeit anfangen. Hinzu
kommt noch die Stratifizierung der Patienten bzw. das Slicing der
Präparate durch den G-BA, die bisher zu durchschnittlich zwei und
maximal neun meist unterschiedlich bewerteten Subgruppen geführt
haben.“

Cassel will deshalb die Frühe Nutzenbewertung einem neutralen
Expertengremium übertragen, um Nutzenbewertung und Preisfindung
institutionell klar zu trennen. Außerdem fordert er, dass der
Erstattungsbetrag – wie anfangs gesetzlich vorgesehen – als Rabatt
auf den Herstellerabgabepreis verhandelt wird („Top-down-Verfahren“),
um Entwicklungskosten einzubeziehen und Erstattungsbeträge auf
Generikaniveau zu verhindern. Ohne diese Reformen befürchtet er, dass
sich das AMNOG als Verfügbarkeits- und Verordnungshürde etabliert:
„Die Hersteller hätten allenfalls entgangene Erlöse zu verkraften,
aber die Patienten litten unter vermeidbaren Schäden in Form
geringerer Lebensqualität, leidvoller Krankheit oder vorzeitigem Tod.
Doch wer will das riskieren?“

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